Freitag, 31. Mai 2013

Spaziergang durch Barmen

Zuerst veröffentlicht auf reformiert-info.de

 


Viel macht sie nicht her, die Fußgängerzone von Barmen. Eine Aneinanderreihung der üblichen Geschäftsketten, hier und dort, vor allem jenseits der großen Einkaufsstraße, Warnzeichen materiellen Niedergangs – Ein-Euro-Läden, einige leer stehende Lokale. Es ist Freitagnachmittag, die Menschen hasten über die Betonplatten. Von dem kleinen Mahnmal am Ausgang einer kleinen Gasse zwischen einem Bekleidungsgeschäft und einem Blumenladen nimmt kaum jemand Notiz. Auch sie macht nicht viel her, im Vorbeigehen kann man die etwa brusthohe Skulptur für einen der vielen Steinklötze halten, die mancherorts im Rahmen städtebaulicher Maßnahmen zu Dekorations- oder sonstigen Zwecken aus dem Boden wachsen. 


Erst, wenn man näher herangeht, offenbaren sich der Detailreichtum und die schlichte Bilderkraft der Skulptur, 1984 von der Wuppertaler Künstlerin Ulle Hees zum Gedenken an die BarmerTheologische Erklärung entworfen: Eine grauschwarze Menschenmenge, Männer, Frauen Kinder, die Hand zum Hitlergruß erhoben. Sicherlich, der Anblick ist beklemmend, die Figuren strahlen eine stumpfe Entschlossenheit aus. Die Gravur auf dem Sockel („Des Herrn Wort bleibt in Ewigkeit“) irritiert in dem Zusammenhang für einen Moment, aber insgesamt bleibt der Eindruck: Ein Mahnmal gegen das Dritte Reich, derer (zum Glück) doch recht viele in deutschen Städten herumstehen, aber eben: Eins unter vielen. Wäre da nicht die Rückseite. Oder ist es die Vorderseite? In Richtung Gemarker Kirche stehen Menschen, die der Masse und dem, den sie grüßen, den Rücken zudrehen. Männer, Frauen und Kinder, die Köpfe über der Bibel zusammengesteckt. Viel machen sie nicht her, dieses kleine Grüppchen frommer Christenmenschen, mit ihrer gräulichen Aura aus Weltabgewandtheit und, pardon, vermeintlichem Desinteresse. Als später Geborener ist es leicht, mit vor Empörungspathos zitternder Stimme und erhobenem Zeigefinger zu fragen: War das alles? Vor allem: Warum habt Ihr die Juden vergessen? Oder womöglich: Warum wolltet Ihr nicht sehen, dass die „Judenfrage“ Euch, uns Evangelische mitten ins Herz trifft? 


Aber: Ich war eben nicht dabei. Und dass die Bekennende Kirche insgesamt im historischen Rückblick nicht viel her macht und sich nicht zur pauschalen Glorifizierung als theologisch inspirierte Widerstandskämpfertruppe eignet, ändert nichts daran, dass die Barmer Erklärung, in all ihrer dogmatisch-verstaubt scheinenden Sprache und ihrer inhaltlichen Unvollständigkeit, ein wichtiges Wort zur Zeit war und ist. Die Besinnung auf den Herrn und den Auftrag der Kirche war kein Rückzug ins Religiöse, sondern eine politisch hochbrisante Absage an Führerkult und theologische Verbrämung des Nationalsozialismus, die ihre Aktualität nicht dadurch eingebüßt hat, dass sich die Zeiten geändert haben.



„Wir verwerfen die falsche Lehre, als gebe es Bereiche unseres Lebens, in denen wir nicht Jesus Christus, sondern anderen Herren zu eigen wären“ - ein Satz wie dieser wird ja nicht obsolet, nur, weil Einzelpersonen mit diktatorischen Ambitionen in unseren Breitengeraden aus (machen wir uns nichts vor) rein kulturellen Gründen zurzeit keine Chance haben. Was ist mit all den anderen „Mächten und Gewalten“, denen wir tagtäglich Entscheidungshoheit über unser kirchliches Tun und Lassen zugestehen, und seien es nur die berühmten „Sachzwänge“? Von Johannes Rau, der nur wenige Meter von hier im Rathaus gesessen hat, stammt der berühmte und ach-so-wahre Satz: „Das Wort ‚zwangsläufig‘ ist eine atheistische Kategorie.“[1]



Auf dem Weg zum Rathaus tauchen aus dem Hinterkopf weitere Satzfetzen auf: „Die christliche Kirche […] hat mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung […] zu bezeugen…“ (These III). Sie vermischen sich mit Schlagzeilen der letzten Monate und mit Erinnerungen an Gespräche mit Menschen, die sich, buchstäblich und zurecht ent-täuscht, von der Kirche abgewandt haben, und ich frage mich, was wohl lauter predigt: Unsere salbungsvollen Kanzelreden, unsere vollmundigen Stellungnahmen und Denkschriften – oder unsere „Ordnungen“, unsere strukturellen Entscheidungen, das kirchliche Arbeitsrecht zum Beispiel?



Am Rathaus vorbei, den Heubruch hoch. Mir fällt ein, dass die „Barmer Theologische Erklärung“ gar nicht so heißt. Offiziell wurde sie eingeführt als „Theologische Erklärung zur gegenwärtigen Lage der Deutschen Evangelischen Kirche“. Das allein wäre heute vielleicht, auch, wenn es in den Augen der Meisten nicht viel hermachen wird, schon ein Bekenntnisakt: Theologisch von der Kirche zu sprechen, statt ihre vermeintlichen Handlungsfelder aus schöngeredeten Mitgliederbefragungen und soziologischen Prognosen abzuleiten, sich dem Anspruch Christi zu stellen, statt den aufs Ganze gesehen doch sehr traurigen Ist-Zustand mit religiösen Floskeln zu adeln. Auch, um dem Missbrauch der Barmer Erklärung durch fundamentalistische Bewegungen etwas entgegen zu stellen, die unter Berufung auf die Bekennende Kirche eben nicht Theologie treiben, sondern reaktionäre politische Ziele mit Bibelversen ausschmücken. Auch das lehrt Barmen: Diffuses Irgendwie-für-oder-gegen-etwas-Sein, auch, wenn es noch so vehement oder elaboriert vorgetragen wird, ist noch lange kein konfessorischer Akt.



Oben am Rathaus links, die Parlamentstraße hinunter. An der Rückseite der Gemarker Kirche steht die in der Rückschau so schmerzlich fehlende „siebte These“, nachträglich, aber dafür in Stein gehauen: Die noch relativ neue, auf kirchlichem Grundstück gebaute Synagoge.



Vom Alten Markt aus ein letzter Blick Richtung Mahnmal, über Barmen. Viel macht es nicht her. Aber das heißt gar nichts.







[1] Johannes Rau, Das Wort „zwangsläufig“ ist eine atheistische Kategorie. Meditation von 1981, in: Matthias Schreiber (Hg.), Wer hofft, kann handeln. Johannes Rau – Gott und die Welt ins Gespräch bringen. Predigten, Holzgerlingen ³2006, 106-109.

Donnerstag, 23. Mai 2013

İntegrasyon? Asimilasyon? Hauptsache Kuchen!

Einheimische kennen sie als die Straße, durch die man besser nicht versucht, mit dem Auto durchzukommen, wenn man es eilig hat. Insider wissen, dass es hier einige der besten türkischen Restaurants gibt. Und der Bundesdurchschnitt kennt sie vielleicht von den traurigen Schlagzeilen über das Nagelbombenattentat im Juni 2004: Die Keupstraße in Köln-Mülheim. In meiner Kindheit eine Straße weiter galt sie noch als einer der rechtsrheinischen Hauptumschlagsplätze für Drogen jeglichen Härtegrads, im Laufe der Zeit hat sie sich jedoch gemausert und lohnt allemal einen Besuch. Vor allem dann, wenn man, wie ich, überdurchschnittlich an Wassermelonen interessiert ist. Denn die kann man dort ganz besonders gut kaufen, man wird besser beraten als beim deutschen Supermarkt um die Ecke, darf meistens sogar probieren - und vor allem: Sie sind weitaus größer. 

Aber um Wassermelonen geht es gar nicht. Heute mal nicht. Lange Zeit galt die Keupstraße in Köln als trauriges und chaotisches Mahnmal für misslungene Integration, für das Scheitern des Traums von einer multikulturellen Gesellschaft und für Segregation und undurchsichtige Parallelkültür.

Das ist jedoch offensichtlich nicht die ganze Wahrheit: Neulich schlendere ich durch die Keupstraße, tapfer, Meter um Meter gegen meinen knurrenden Magen ankämpfend, der bei jedem Schaufenster, hinter dem fetttriefende Dönerspieße anmutige Pirouetten drehen, hüpft und ruft: "Halt, hier rein!" Und komme an einer Bäckerei vorbei, in deren Auslage ich an die vierzig verschiedene Gebäcksorten zähle und auch die jahreszeitüblichen, mehr oder weniger geschmackvoll dekorierten Torten entdecke. Und stutze. Denn neben Kalorienmonstern, deren knallblaue Aufschrift jüngst zum Manne gemachten Jungs zur Beschneidung oder Galatasaray zum Sieg gratuliert, stehen auch solche mit Glückwünschen zur "Heiligen (!) Taufe" und zur Kommunion. Mit Kreuz und allem Drum und Dran.

Ich gehe ein bisschen näher an das Fenster heran und entdecke noch ein kleines, aber faszinierendes Detail: Zwischen diversen Plastikbrautpaaren, also diesen Figürchen, die immer auf Hochzeitstorten ganz oben stehen und für herzliches Gelächter sorgen, wenn beim Anschneiden Braut oder Bräutigam mit dem Gesicht nach vorn in die Buttercreme kippen, stehen auch zwei Bräute Händchen haltend nebeneinander. In der trendigen Tortenbäckerei in der Innenstadt, an der ich nur ein paar Stunden zuvor vorbeigegangen bin, gab es sowas nicht. Und in den (handwerklich ansonsten tadellosen) Kuchenmanufakturen bei uns am Stadtrand sowieso nicht. Derart ausgefallene Sonderwünsche müsse man lange im Voraus bestellen und natürlich, wenn sie denn überhaupt zu erfüllen gingen, extra bezahlen, erklärte neulich eine resolute Bäckereifachverkäuferin auf meine neugierige Nachfrage. Und Aufschriften auf Türkisch gingen auch nicht, da könnte man ja wer-weiß-was draufschreiben lassen.

Mir jedenfalls gefallen solche unaufgeregten Statements wie das im Bäckereischaufenster in der Keupstraße. Ich weiß natürlich, dass diese Art von Toleranz nicht repräsentativ für alle konservativen Milieus jedweder Bevölkerungsgruppe mit Migrationshintergrund ist. Aber: Es sind eben Statements, die das Nebeneinander verschiedener Lebensläufe buchstäblich en passant schaufenster- und salonfähig machen. Das ist wichtig in Zeiten, in denen Einzeläußerungen türkischer Politiker über die Kreuze in deutschen Gerichtssälen hysterisch aufgeblasen werden. Und in denen die im Kern menschen- und christusfeindlich agierenden und argumentierenden Vertreter der nordrhein-westfälischen Pro-Bewegung beim CSD mitlaufen wollen, um über das mit wenigen Pinselstrichen zusammengeschmierte Feindbild eines homophoben Islams ein paar rosa-braune Wählerstimmen abzugreifen.

Weil ich die stillen Statements dagegen unterstützen möchte, und weil Kalorienzählen nicht alles ist, erinnere ich mich an das zwar nicht biblische, aber doch sehr weise Wort, dass ein Leben ohne Kuchen zwar möglich, aber sinnlos ist, und gehe gut gelaunt und mit knurrendem Magen in die Bäckerei. Afiyet olsun! 


Update: Bei Facebook ist zu erfahren, dass noch vor einigen Monaten ein Pärchen aus zwei Bräutigamen... Bräutigams... Bräutigämern... also zwei Männer zu sehen waren - die Entscheidung ist also nicht nur bewusst, sondern in hohem Maße gendergerecht. Und vor diesem Hintergrund kann man ja ruhig ein kleines bisschen Werbung machen und darauf hinweisen, dass es sich hier um die Bäckerei jener Familie handelt, die seinerzeit als die "türkischen Fußbroichs" durch eine Fernsehserie von Ute Diehl berühmt geworden ist.

Mittwoch, 15. Mai 2013

Pfingsten und die Freiheit der Sprache

Pfingsten also. Nicht ganz einfach, nicht so griffig wie Weihnachten oder Ostern. "Die Alten werden Träume träumen" und "Knechte und Mägde werden weissagen", diese alttestamentlichen Verheißungen werden nach der biblischen Geschichte an Pfingsten erfüllt. Zum Beispiel dann, wenn zwei Rentnerinnen dem Pfarrer auf die Sprünge helfen und Nachhilfe in Sachen Theologie geben.

Die Kölsche.


"Wissen Se", beginnt die alte Dame in breitem Kölsch, als wir bei ihr am Küchentisch sitzen und sie mir erklärt, warum sie früher so viel Probleme mit dem Beten gehabt hätte, "ich han ja met däm Bedde immer esu ming Problem jehadt. Irjendswie han ich immer jedaach: Esu schön un hühwöödich, wie dat dä Pastur en dr Kirch immer mäht, krejen ich dat nit hin. Wann ich ens versök ze bedde, dann dun ich immer esu ärmsillig erömstruddele, do däht dä Härjott bestempt nit jään zohüre." 
Ich nicke. Das erzählen viele. Zumindest die, die mit dem Hochdeutschen so ihre Probleme haben und glauben, dass Gebete, die nicht so würdevoll, präzise, vielleicht ein bisschen hochgestochen klingen wie beim Pfarrer in der Kirche, es nicht richtig bis zum Himmel hoch schaffen. Und schüttele den Kopf. So ist es ja gar nicht! Ich will den Mund aufmachen, will ihr erzählen von den Mut machenden Worten Jesu, dass Gott sowieso schon jeden Gedanken kennt, bevor wir ihn ausgesprochen haben, und von Paulus, der sagt, dass der Heilige Geist dem lieben Gott "mit unaussprechlichen Seufzern" ständig für uns in den Ohren liegt, weil wir doch alle manchmal unsere liebe Not damit haben, die "richtigen" Formulierungen zu finden - und weil es uns manchmal schier die Sprache verschlägt, auch die religiöse.
Doch sie redet schon weiter, und ihre Augen leuchten: "Ävver dann han ich e Boch krejen, un dat hät mr jeholfe!" Sie springt auf, holt aus dem Schlafzimmer das Buch, das ihr geholfen hat, und legt es auf den Tisch. Die "Psalmen op Kölsch" von Ria Wordel. Ein altes, zerlesenes, offenbar häufig gebrauchtes Buch. Sie schlägt es auf und liest mir aus Psalm 7 vor: Här, mingen Jott, op dich verdrauen ich. Rett mich doch vor all denne biestije Kääls, dat die mich nit wie ene Löw zerrieße un keiner do es, dä mir ze Hölp kütt. Sie sieht mich an und sagt leise: „Un wissen Se, et jidt en dr Welt e janze Menge biestije Kääls…“ Dann schlägt sie das Buch zu und sagt fröhlich: „Ja, un jetz dun ich och ald widder bete!“ Jetzt betet sie wieder.

Auf dem Nachhauseweg denke ich an den Satz aus der Pfingsgeschichte: "jeder hörte sie in seiner Sprache reden..." Und an Nelson Mandela, der einmal gesagt hat: Wenn du jemandem etwas in einer Sprache erzählst, die er versteht, dann geht ihm das in den Kopf. Wenn du mit ihm in seiner Muttersprache redest, geht ihm das zu Herzen.

Die Katalanin.


"Hier, menja!" Mit diesen Worten stellt sie einen Teller mit Tomatenbrot vor mir auf den Tisch, pa amb tomàquet, ein traditonelles Armeleuteessen und ein katalanisches Nationalgericht. Sie nimmt mir gegenüber Platz und streicht sich ihr pechschwarz gefärbtes Haar zurück. Eitel ist sie geblieben, meine Nachbarin María, zeitlos, robust und wettergegerbt wie ein knorriger Olivenbaum auf einem Hügel irgendwo im Umland von Barcelona. Da kommt sie her, und sie legt großen Wert darauf, dass sie keine Spanierin ist, sondern Katalanin. 
Beim Essen kommen wir auf Pfingsten zu sprechen, ich erzähle ihr von einem geplanten Tauferinnerungsgottesdienst und dass wir froh sind, auf diese Idee gekommen zu sein, weil Pfingsten doch ein Fest ist, dessen Sinn sich nicht ganz einfach vermitteln lässt. "Pah, schwierig", macht sie und schlägt mit der flachen Hand auf den Tisch. "Pentecosta schwierig... ist ganz einfach: Pfingsten ist ein Freiheitsfest!" Als ich sie fragend angucke, holt auch sie ein Buch aus einem benachbarten Zimmer und legt es auf den Tisch. "Alte Bibel von meine Mutter", erklärt sie. "Montserrat", fügt sie, fast verschwörerisch, hinzu. Und erzählt, wie es war, als unter Francos Diktatur das ganze Land "hispanisiert" werden sollte: Den Menschen wurde verboten, ihre Muttersprachen zu sprechen, Ortsnamen und Straßenschilder wurden umbenannt, und auf Català oder Galego wagte man höchstens zu flüstern, hinter verschlossenen Türen. Sprachimperialismus nennt man das, wenn eine Herrscherelite ihre eigene Sprache gewaltsam durchsetzt - und so die gesamte Kultur unterwirft und Menschen klein hält. "Fremde Sprache ist Gefängnis für die Seele", schimpft sie in holprigem Deutsch und schlägt gleich nochmal mit der Hand auf den Tisch. Sie erzählt aber auch mit vor Stolz bebender Stimme von den Mönchen von Montserrat, einem Kloster im Hinterland von Barcelona. Im Schatten der Sandsteinberge wurde dort, wo in den Zwanzigern die erste katalanische Bibel der Neuzeit entstanden war, während der Francodiktatur auf Katalanisch weiter gepredigt, gebetet, gesprochen und publiziert. 
Sie schlägt die Bibel auf und liest aus der Apostelgeschichte: Així que es féu aquella remor, s'aplegà la multitud i es produí una confusió entre ells, perquè cadascun els sentia parlar en la pròpia llengua. "Klar haben die Leute sich gewundert, als sie ihre Sprache gehört haben", stellt sie fest, und sagt, fast staunend, dass es ihr bis heute unwirklich  vorkommt, wenn sie in ihrer Heimat zu Besuch ist, über die Ramblas spaziert und überall Menschen auf Katalanisch lachen, streiten und rufen hört. Ganz laut, ganz offen. Ganz frei.

Pfingsten also. "Denn jede hörte sie in seiner Sprache reden..."

Montag, 13. Mai 2013

Ach, die auch..?! Überraschende Theologen

"Philosophie hat so einen sexy touch plötzlich", jauchzte Bettina Tietjen (übrigens eine aus Wuppertal stammende geborene Schniewind - ob hier auch rheinischer Theologenadel im Genpool mitgemischt hat, ist mir leider nicht bekannt) vor einem Jahr im NDR, als es um Richard David Precht und Philipp Hübl ging. Der in diesem Gespräch (optisch wie kommunikativ) eher beisitzende Eckart von Hirschhausen warf sehr schnell ein, dass es ja nicht das Können, sondern das Aussehen sei, das mediale Aufmerksamkeit absichere, immerhin würden mit Vanessa Mae und David Garrett auch nicht der Welt beste Geiger geehrt, sondern die, die sich auch auf BRAVO-Titelblättern gut machen.

"Tja, die Philosophie", dachte ich und fragte mich, wer aus der vordersten Riege medial präsenter Theologinnen und Theologen wohl dazu geeignet wäre, einer Frau Tietjen solches Entzückungsgegurre zu entlocken. Hm. Schwierig. Es fängt schon an bei der medialen Präsenz, da kommen höchstens Margot Käßmann, Nikolaus Schneider und Jürgen Fliege überhaupt in einen Bereich, der auf Grund von suchmaschinellen Ergebniszahlen in Betracht gezogen zu werden verdiente. Ob diese Drei der Theologie nun gerade einen "sexy touch" verleihen, sei mal dahingestellt. Und auch auf katholischer Seite vermögen Papst Franziskus, Ex-Papst Ratzinger und sein Kammerdiener Georg Gänswein, der Lex Barker der Kurie, höchstens papsttreuen Groupies wie Gabriele Kuby, Matthias Mattussek oder der Schnackseltheoretikern Gloria von T'n'T kehliges Geschnurre zu entlocken und den Hormonhaushalt durcheinander zu bringen. Beim berüchtigten Calendario Romano, einem von schwulen Operettenliturgikern, aufgeschlossenen Nonnen und routinierten Kanzelschwalben mit nervösem Kichern bei jedem Romurlaub gleich dutzendfach erworbenen Pin-Up-Kalender mit schwarzhaarigen Schwiegermutterträumen in Soutane, scheint es sich ja doch um ein Fake zu handeln. 
Und, jaja, überhaupt kann man natürlich fragen, ob "sexy" ein Attribut ist, das der Theologie gut zu Gesicht steht.

Aber: Über gedankliche Umwege kam ich dann zu den Leuten, die Theologie studiert haben oder es noch tun, vielleicht sogar in dem Bereich gearbeitet haben, und von denen man es eher nicht vermutet hätte. Der am wissenschaftlichen Diskurs interessierte Theologe in mir fragt natürlich gleich: Wieso eigentlich nicht? Gegen welche Bilder von Pfarrerinnen und Pfarrern verstoßen diese Personen, welche Schubladen gehen nicht mehr zu, weil sie nicht ganz reinpassen? Das möge sich jede/r selbst fragen, hier nun meine Top Five der überraschendsten Theologinnen und Theologen.

 

Außer Konkurrenz: Jürgen Fliege

Moment mal, ahne ich das Stutzen der Lesenden, Jürgen Fliege? Der Fernsehpfarrer? Kalter Kaffee, kennt man doch, höre ich sie pfeifen und buhen. Ja, genau, der Fernsehpfarrer. Trotzdem außer Konkurrenz auf der Liste, weil es doch immer wieder aufs Neue überrascht, dass jemand, der ein volles theologisches Studium mit zwei Examina absolviert hat, übers Internet gesegnetes Wasser in kleinen Fläschchen verkauft. Überaus sehenswert, wenn auch ein wenig Mitleid und Fremdscham erregend: Das legendäre Streitgespräch bei dem Ex von Birgit Schrowange, mit Helmut Karasek, Ingrid van Bergen und der unvergleichlichen Jutta Ditfurth ("Ein kritisch denkender Mensch kann nur eine bestimmte Portion an Sülze ertragen"), aufzurufen und immer wieder anzuschauen bei youtube.

Auf Platz 5: Tim Bendzko

(c) HP/kirchengeschichten.blogspot.de
Tim Bendzko hat vor, bzw. zu Beginn seiner Karriere noch Evangelische Theologie und irgendwas Religionswissenschaftliches studiert - über seine Beweggründe und Erfahrungen erzählt er im Interview mit Clixoom. Nur auf dem fünften Platz der Liste mit den überraschendsten Theologen, weil es natürlich niemanden so recht überrascht: Erstens ist diese Episode seiner Biografie vor zwei Jahren (wir erinnern uns: "Welt! Rettn!") zur Genüge breit getreten worden. Und zweitens - Leute, habt Ihr mal seine Texte gehört? Ein bisschen hölzern, ein bisschen verträumt, aber ach!, so sympathisch: "Es geht um die Lasten des Lebens, ums Sichdollgernhaben und um die Schönheit der Orte, an denen diese Männer immer viel lieber wären, an die sie aus irgendeinem verflixten Grund aber nie gelangen. Und das nicht nur, weil sie gern ohne Schuhe unterwegs sind", so NEON vor einigen Jahren nicht ohne Bissigkeit, aber auch nicht ohne guten Grund. Nichts also, was man nicht von deutschsprachigen Kanzeln kennen würde. Und daher: Platz fünf für'n Tim.

Platz 4: Christian Ulmen

Naja, gut. Man kann sich fragen, ob er zählt. Christian Ulmen war zwar nach der Schule in Hamburg für Theologie eingeschrieben, hat das Studium aber nie aufgenommen, von daher, wie gesagt: Naja. Halt nur Platz vier. Interessantes hat er aber trotzdem zu sagen, etwa im Interview mit dem Reutlinger General-Anzeiger. Dort sagt er zum Beispiel, er sei "protestantisch und nicht gläubig" - das ist eine Selbstbezeichnung, die man sonst eher aus dem Mund säkularer Jüdinnen und Juden kennt, und die eigentlich weiteres Nachdenken rechtfertigen würde.

Platz 3: Julian Sengelmann

Ja wie, "hä?!"? Klar kennt man den. Zum Beispiel aus Türkisch für Anfänger, wo er einen Polizisten gespielt hat, sogar mehrere Folgen hintereinander. Besagte Serie lief übrigens in Schweden im Schulfernsehen für den Leistungskurs Deutsch. Mit Julian Sengelmann als Polizist Mark. Andere kennen ihn vielleicht von seiner Band Feinkost, die auch auf Kirchentagen auftritt oder von diversen anderen Erscheinungen in Film und Fernsehen, etwa im Löwenzahn-Kinofilm. Hier auf dem dritten Platz, weil er sein Studium nicht nur angetreten, sondern auch mit erstem Examen beendet hat und jetzt, wie man hört und liest, eine Promotion angeschlossen hat.

Platz 2: Steffen Möller

File:Steffen Möller Berlin.jpg
(c) wikipedia.de/flickr.com
Der Apfel fällt bekanntlich nicht weit vom Stamm: Steffen Möller, deutscher Kabarettist, der in Polen als Moderator der dortigen Version von "Wetten, dass?" mit charmantem deutschen Akzent fast schon Kultstatus und hierzulande einige Bekanntheit mit seinem Buch "Viva Polonia" erlangt hat, ist (wer genau hinsieht und -hört, erkennt es auch) der Sohn von Christian Möller, der vor seiner Emeritierung u.a. Praktische Theologie in Wuppertal und Heidelberg gelehrt hat. Möller junior hat nach eigenen Angaben in Wuppertal, Bochum und Berlin Philosophie und Theologie studiert, dann aber zunächst als Deutschlehrer in Polen gearbeitet.

Platz 1: Desirée Nick


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(c) Udo Grimberg / wikipedia.de
Hat zwischen Balletttanz und späterer Dschungelregentschaft im Fernstudium katholische Theologie studiert und als Lehrerin gearbeitet. Bei ihr ist es vielleicht keine allzu große Überraschung, denn sie erzählt es oft und gern selbst - zum Beispiel in ihrem schönen Buch "Eva, go home!", bei der sie das Machwerk der ehemaligen Miss Tagesschau durchaus fachgerecht und sehr unterhaltsam zerlegt und nebenbei bestimmte Grundsätze historisch-kritischer Bibelexegese immerhin so massentauglich erklärt, dass man einzelne Seiten sogar im Reliunterricht der Oberstufe benutzen kann.

Sonntag, 12. Mai 2013

Liebe? Üben! - Predigt über 1. Korinther 13,5

gehalten am 12. Mai 2013
nach reformierter Tradition,
Antoniterkirche Köln-Mitte 

Die Liebe ist nicht taktlos...
Sie sucht nicht das ihre...
Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen...
Sie rechnet das Böse nicht an...

Liebe Gemeinde,




(c) twinlili / pixelio.de
„Liebe“ also. Legen wir die Karten auf den Tisch: Als ich gelesen habe, dass in dieser Predigtreihe 1. Korinther 13 dran sein würde, habe ich erst einmal geseufzt. Schon wieder. Es ist Mai, die Hochsaison für kirchliche Trauungen beginnt und damit auch die Hochkonjunktur dieses Textes, der in fast jeder Trauung vorkommt und den gerade kirchenferne Brautpaare oft schätzen, weil er so schön ist – und weil scheinbar so wenig spezifisch Christliches darin vorkommt und man ihm noch eine ganze Reihe anderer sentimentaler Allgemeinplätze beifügen kann.

Besonders schwer fiel mir unter anderem immer der Vers, der für heute vorgegeben ist. „Sie ist nicht taktlos… sie sucht nicht das ihre… sie lässt sich nicht zum Zorn reizen… sie rechnet das Böse nicht an…“ Wenn solche Sätze als Durchhalteparole für Opfer häuslicher Gewalt ausgegeben und sicherlich auch zum Teil verstanden werden, dann ist das nicht weniger als der Humus, auf dem Neurosen blühen.



Allerdings: So meint Paulus das Ganze nicht, er schreibt von „der Liebe“, nicht von „den Liebenden“ – auch, wenn die Grenzen gerade im Freudentaumel vor der Hochzeit zu verschwimmen scheinen. Und Paulus hat diese Verse auch nicht für eine Trauung geschrieben. Was Paulus über die Ehe zu sagen hatte, das hat er ein paar Kapitel (1Kor 7) vorher getan, in notorisch unsentimentaler Manier: „Wer gar nicht voneinander lassen kann, der soll eben heiraten. Ich wünschte freilich, mehr Menschen wären (unverheiratet) wie ich, aber wenn es denn sein muss...“ Und es ist eigentlich paradox, dass ausgerechnet Paulus als eingefleischter Junggeselle so oft und gern auf die Hochzeit zitiert wird, während gleichzeitig den katholischen Kollegen oft jede Kompetenz in Sachen Beziehungen abgesprochen und ihnen vorgeworfen wird, sie würden wie die Blinden von der Farbe reden.



Es geht nicht um die Hochzeit, es geht nicht nur, wenn überhaupt, um romantische Liebe, es geht um mehr als Zwei. Das muss ich mir neu klarmachen, meine Bibel nehmen und das Konfetti und den Puderzucker rausschütteln, die sich mit der Zeit zwischen den Seiten angesammelt haben. Und einen Schritt zurückgehen, um das größere Bild vor Augen zu bekommen – es geht um mehr als zwei, es geht Paulus um die Gemeinde, um Menschen, die gemeinsam Christinnen und Christen sein wollen, und zwar zunächst einmal, ganz konkret in der antiken Hafenstadt Korinth am Peloponnes: Einer Gemeinde zwischen zwei Häfen in einer pulsierenden Metropole, in der es Probleme gibt. Probleme, weil Menschen unterschiedlich sind und bleiben: Da klafft die Schere zwischen arm und reich auseinander, da machen die Einen religiöse Erfahrungen, die sie glauben lassen, sie seien frömmer, christlicher, ernsthafter als die Anderen, die nicht so enthusiastisch sind, nicht so glänzende mitreißende Begabungen vorweisen können.



Dieser Gemeinde schreibt Paulus einen langen Brief mit viel Konkretem, aber auch mit viel Grundsätzlichem. Und in dem Abschnitt, den wir in diesem Jahr hier im „einfachen Gottesdienst“ auslegen, schreibt er nicht vor, sondern er beschreibt. Vorschreiben kann er in diesem Kapitel vielleicht gar nichts, denn Liebe lässt sich nicht machen – das wissen wir wahrscheinlich alle aus der einen oder anderen schmerzlichen Erfahrung.

Liebe lässt sich nicht machen, aber sie lässt sich „üben“. „Liebe üben“ überhaupt ist ein schöner Ausdruck für das, wozu dieses viel besungene Hohelied uns anreizen kann, und zwar in mehrfacher Hinsicht: 


Im Sinne von „ausüben“ – denn Liebe meint, zumal im biblischen Sprachgebrauch, mehr als das warme Gefühl, mehr als ein klopfendes Herz und flatternde Schmetterlinge: Liebe zeigt sich und besteht im handfesten Tun, das den Anderen ins Recht setzt und eine Beziehung auf Augenhöhe ermöglicht. Deswegen schreibt etwa Paulus im Brief an die Thessalonicher von der „Arbeit der Liebe“ (1Thess 1,3). 


„Liebe üben“, das heißt auch, dass solches Handeln trainiert, "eingeübt" werden kann und muss. 


Und schließlich schwingt beim „Üben“ ja auch das Wissen darum mit, dass die Perfektion noch nicht erreicht ist, wahrscheinlich, wenn wir Paulus beim Wort nehmen, in diesem Leben gar nicht erreicht werden kann. Und vielleicht spricht Paulus deswegen auch in dem Vers, um den es heute geht, in negativen Definitionen von der Liebe, weil seinen Hörerinnen und Hörern, seinen Leserinnen und Lesern Erfahrungen von dem, was Liebe nicht ist, womöglich näher liegen…



Sie ist nicht taktlos.



Das klingt zunächst schwer nach bürgerlichem Anstand, nach einem Korsett von Konventionen, die Gefühl und Herzlichkeit einzwängen, nach einer Fassade, die es zu polieren gilt. Liebe ist nicht taktlos, so übersetzt man neuerdings in Zürich und Genf, sie tanzt nicht aus der Reihe, hält sich an das vorgegebene Metrum und die wohltemperierte Stimmung eingängiger Konsensmusik. Sie ist nicht „ungehörig“, mahnte Luther, weiß also, was sich gehört, wo die Grenzen des gemeinhin Akzeptablen liegen. Luther selbst müsste sich dann sehr selbstkritisch vom Handeln aus Liebe ausgenommen haben, ebenso Jesus selbst: Mit korrupten Beamten und Prostituierten verkehren, das einträgliche  Tagesgeschäft im Tempel stören – taktvoll war das nicht in den Augen der Mehrheit, und ist es bis heute nicht in den Köpfen derer, die aus dem Evangelium eine rein innerliche Geistes- und Herzensangelegenheit machen wollen. Das kann es also nicht sein.  


Mit „guten Umgangsformen“ hat es allerdings schon zu tun: Meine Tante in Schweden, die sehr viel Wert auf gute Manieren legt, hat mir mal erklärt: Gute Umgangsformen sind keine Verhaltenscodices, die irgendeine äußerliche Norm absichern, sondern sind erprobte Handlungsweisen, die dabei helfen, mein Gegenüber in jeder Situation mit Respekt zu behandeln und seine, also des anderen Würde zu wahren. Das Wort, das Paulus hier benutzt, taucht nur ein Kapitel vorher schon einmal auf, und zwar dort, wo er die Menschen in der Gemeinde mit den Teilen eines lebendigen Organismus vergleicht. Da heißt es: „Diejenigen Glieder, die uns am wenigsten ehrenwert erscheinen, umgürten wir mit umso größerer Ehre.“


Ein Beispiel dafür, wie auf eine solche Art Liebe geübt wird, finde ich ganz am Anfang der Bibel, nach der Sintflut (Gen 9,20-23): Noah liegt nackt und besoffen im Zelt, und seine Söhne Ham und Jafet gehen leise und behutsam und ohne den Blick zu heben in sein Zelt und decken seine Blöße zu und schützen ihn vor neugierigen Augen. 


Nicht immer werden solche liebevollen Umgangsformen darin bestehen, dass man die Decke der Scham und des Schweigens über anderen ausbreitet.



Ich denke da an die Menschen,  die Sonderlinge und die verschrobenen Gestalten, die von den Meisten nur mit schälen Blicken bedacht werden und die immer mal wieder auch bei uns in der Kirche auftauchen. Ich stelle mir vor, dass in der Gemeinde diejenigen, die am Maßstab der Mehrheit scheitern, nicht nur einen versteckten Gnadenplatz unterm Tisch bekommen, wo sie sich an die Brotkrumen, die andere fallen lassen, halten können. Sondern dass sie als ernsthafte, wertvolle Gesprächspartner und gleichberechtigte Mitglieder behandelt werden. 


Die Volxbibel, eine nicht ganz zu Unrecht an mancher Stelle kritisierte umgangssprachliche Bibelübertragung aus dem Umfeld der Jesus Freaks,  übersetzt unseren Vers sehr handfest, und deswegen treffend: „Liebe will Leute nie fertigmachen.“ Und ich überlasse es Ihnen und Ihrer Fantasie, wie es aussehen könnte, wenn Gemeinden und Kirchen sich in ihrem Umgang mit Schuld, Scham, Schande, mit Andersartigkeit und Richtungsstreits davon leiten ließen.



Die Liebe sucht nicht das ihre.



So heißt es weiter in unserem Vers. Damit ist nicht gesagt: Sie sucht nicht. Natürlich ist und bleibt auch die Liebe eine tastende Suchbewegung. Die wird aber vor allem dort fündig und segensreich, wenn der Blick nicht gesenkt und am eigenen Leib und der eigenen Befindlichkeit kleben bleibt. Die besorgte Nabelschau, die wir so oft und gern betreiben, auch und nicht zuletzt in der Kirche, führt nämlich zu den Haltungsschäden, die zunächst Augustin, dann Luther mit scharfem Blick als die des sündigen, in sich selbst verkrümmten Menschen diagnostiziert haben. Die Liebe, die nicht das ihre sucht, macht dagegen den Rücken gerade und den Blick frei auf das, was um uns herum geschieht.



Natürlich kann man diesen Satz missbrauchen. Natürlich kann man damit einen Kult der Selbsthingabe und Aufopferung schaffen, der entsprechend veranlagte, liebevolle Menschen in den Burn Out treibt. „Sorgen Sie für sich selbst“, ist ein Ratschlag, der deswegen bei Fortbildungen, Retraits und Therapiesitzungen oft und mit Recht denjenigen gegeben wird, die sich in sozial ausbeuterischen Milieus den Rücken krumm und die Seele wund geackert haben. 

Damit aber verliert dieser Satz nicht an Bedeutung und auch nicht an Aktualität – machen Sie in der Gemeinde mal eine Sitzung mit, in der Budgets verteilt werden. Oder lesen Sie Reformprogrammschriften, mit denen gerade die Evangelische Kirche sich in jüngster Zeit immer wieder gern aufplustert. Oder gehen sie meinentwegen einfach mal an einem Nachmittag hier über die Schildergasse. Sie werden hier wie dort viele Exemplare des homo incurvatus in se, des in sich selbst verkrümmten Menschen in seinem natürlichen Lebensraum sehen. Dazu müssen Sie allerdings selbst den Blick nach vorn richten…



Sie lässt sich nicht zum Zorn reizen.



Das klingt zunächst wie die Konsequenz aus den beiden vorigen Halbversen, oder nach einer Variation des bereits Bekannten: Die Liebe lässt sich nicht zum Zorn reizen. Das hat natürlich etwas mit guten Umgangsformen zu tun, denn es gibt die Art von Zorn, die lieblos ist, die aus dem Affekt heraus poltert und scheppernd wie Erz und blechern und schrill wie Schlagwerk andere Menschen runtermacht, fertig macht und sie entmenschlicht. Das hat auch was mit der neurotischen Sorge um sich selbst zu tun, denn es gibt auch diese Art Entrüstung, die lautstark und nach allen Seiten hin Schelte über die Politiker, die Gesellschaft, die Zustände austeilt. Eine Empörung, die nichts kostet und vor allem dem Zweck dient, sich und anderen zu beweisen, dass man selbst auf der moralisch richtigen Seite steht.

Vor diesem Hintergrund kann ich den Vers verstehen, oder andere Sprüche (17,14) der Bibel, die uns mahnen: Lass ab vom Streit, ehe er losbricht!


Es gibt allerdings eine Spur in der Bibel, die im Judentum aufgenommen wird, im Christentum aber im Dienste einer frömmelnden Appeasementtheologie, die Zorn und Klage, Ärger und Aggression kriminalisiert, unter den Teppich gekehrt worden ist, die daran erinnert, dass es natürlich berechtigten Zorn, begründete Wut über verbrecherisches und ungerechtes Verhalten gibt. Vielleicht haben Sie die Lesung (1Sam 1,11-6) noch im Ohr: Ein kriegerischer König (bezeichnender Weise mit Namen Nachasch, sprich Schlange - nomen est also doch omen) nutzt seine militärische Überlegenheit auf eine besonders schäbige Art und Weise aus: Er belagert eine Stadt, und deren Einwohner bieten ihm angesichts der aussichtslosen Lage die Kapitulation an. Nachasch willigt ein, allerdings unter der Bedingung, dass er jedem von [ihnen] das rechte Auge ausstechen und damit Schande bringen kann über ganz Israel. Die Nachricht über diese Demütigung eines unterlegenen Gegners durch sadistische Gewalt an der Zivilbevölkerung erreicht den späteren König Saul, und in der Bibel steht an dieser Stelle der denkwürdige Satz: Und als Saul diese Worte hörte, durchdrang ihn der Geist Gottes, und sein Zorn entbrannte heftig.


Saul wird wütend und zwar, das finde ich das Bemerkenswerte, nicht bereits, nachdem er von der Kriegstreiberei gehört hat, sondern nachdem ihn der Geist Gottes durchdrungen hat. Das macht seine Wut zu mehr als einer verständlichen Reaktion, das macht sie zu einem Geschenk, einer Gabe, einer Berufung. Das rechtfertigt in keinster Weise die religiös motivierte Gewalt, die in den letzten Jahren von muslimischen Selbstmordattentätern medienwirksam inszeniert und von westlichen Medien dankbar und sensationsgierig ausgeschlachtet wurde, die es aber in allen Religionen, Gott sei es geklagt, gab und gibt. Jaron Engelmayer, der Rabbiner unserer hiesigen jüdischen Gemeinde, nennt hier ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal: Religiös motivierter Zorn ist immer dann falsch, wenn er für Gott und für einen selbst brennt und sich gleichzeitig gegen die Menschen und gegen den Frieden richtet.

Aber auch hier gilt: Die in tiefer Lieblosigkeit wurzelnde Möglichkeit des Missbrauchs ändert nichts daran, dass Menschen und Gemeinden, die von der Liebe getrieben sind und sich nicht unnötig zum Zorn reizen lassen, alles andere als lethargisch und unbeeindruckt von dem, was um sie herum passiert, leben.



Schließlich:



Die Liebe rechnet das Böse nicht an.



Zunächst einmal: Sie rechnet nicht. Das ist heute vielleicht schon das eigentlich Skandalöse an dem Satz in einer Gesellschaft, die in einer bislang nicht bekannten Weise alle Lebensbereiche dem Diktat der Ökonomisierung unterwirft und in logischer Konsequenz auch im Zwischenmenschlichen fragt, ob es sich denn rechnet, die taxiert, taktiert und kalkuliert. Die Liebe rechnet nicht, und sie rechnet das Böse nicht an. Gott sei Dank, kann man da nur sagen: Es ist eine Grundeinsicht der Bibel und ein Eindruck, dessen man sich nicht erwehren kann, wenn man mit ein bisschen Selbstkritik und offenen Augen durch die Welt geht, dass wir Menschen in Sachen Liebe und Gerechtigkeit immer mehr rote als schwarze Zahlen schreiben. Wer hier das Böse anrechnet, Dossiers über seine Mitmenschen führt, in denen minutiös aufgelistet ist, was sie uns schuldig geblieben sind – und in aller Regel sind wir ja besonders strenge Buchhalter und Buchhalterinnen, was die Soll-Seite angeht -  befeuert einen Kreislauf des Aufrechnens und Abrechnens, der zu einem Strudel von Gewalt und Gegengewalt wird, der alles in die Tiefe reißt. Die Liebe, die das Böse nicht anrechnet, ist der Notausgang aus diesem Teufelskreis, ist der Strich, der durch die Auf- und Abrechnung gezogen wird. 


Das Vorbild für solche Liebe ist für Paulus hier (wie auch in den anderen Versen) das Handeln Gottes im Christus Jesus. Im Kolosserbrief (2,14) heißt es, ganz im Geiste dieser Verse: „Zerrissen hat er den Schuldschein, der aufgrund der Vereinbarungen gegen uns sprach und uns belastete. Er hat ihn aus dem Weg geräumt, indem er ihn ans Kreuz heftete.“ Wenn hier das Kreuz als Tief- und gleichzeitig Wendepunkt menschlicher Gewalt- und Schuldgeschichten in den Blick kommt, dann wird deutlich: Es geht auch hier nicht um Sentimentalitäten. Es geht nicht darum, das Böse nicht beim Namen zu nennen. Es geht auch nicht darum, in falsch verstandener Demut und Selbstentsagung alles Mögliche hinzunehmen oder in postmoderner Laissez-faire-Lethargie unter dem Hinweis, dass alles ja nun zwei Seiten hat, gerade das strukturell Böse und Ungerechte zu verfestigen.

Es geht um die Herausforderung, unter die Soll-Seite einen Schlussstrich zu ziehen, den Taschenrechner zuzuklappen, den Rotstift aus der Hand zu legen. Auch diese Spielart, diese Begleiterscheinung von Liebe kann und will geübt sein, indem ich zunächst mir selbst immer wieder klar mache und sagen lasse, dass auch ich überhaupt nur aus der Vergebung heraus lebe. Denn nur durch Vergebung wird Schuld aufgehoben und nichtig, dadurch wird meine Soll-Seite getilgt - nicht dadurch, dass ich durch hektisches Getue meine Haben-Seite aufpoliere, oder aber möglichst viel Belastendes über andere anrechne, das mich entlasten soll.



(c) Petra Schmidt / pixelio.de
Liebe Gemeinde, auf dem Umweg über die Schildergasse ist für mich 1Kor 13 dann doch wieder ein akzeptabler, sogar sehr angemessener Trautext geworden. Eben weil er mehr und anderes bietet als romantische Sentimentalität. Die hat ihre Berechtigung und ihren Platz im Leben. Aber die Liebe, die Paulus hier beschreibt, bietet Perspektiven, die dann greifen, wenn die Anfangseuphorie verflogen und der Alltag eingekehrt ist, in Liebesbeziehungen oder all den anderen Projekten, bei denen Menschen das Leben in Gemeinschaft wagen. Und so wünsche ich uns allen, dass wir an den Rändern unserer vielen verschiedenen und manchmal verschlungenen Wege, und an dem großen Weg, auf den alle Welt sich zubewegt und auf dem Gott selbst uns entgegen kommt, die Gelegenheiten wahrnehmen, Liebe zu üben, auf dass wir immer geübter werden im undramatischen, liebevollen Handeln und im Tun des Gerechten. 


Herr, uns bleiben Glaube, Hoffnung und Liebe, diese drei.

Lass das letzte immer größer in uns werden.



Amen.