Montag, 15. Juli 2013

Emergenz und höhere Mathematik - Predigt über Lk 9,10-17



Liebe Gemeinde,


in der Schule war ich nie besonders gut in Mathe. Vielleicht habe ich deswegen Theologie studiert, anstatt irgendetwas „Anständiges“ zu machen. Vielleicht gefällt mir auch deswegen die Geschichte besonders gut, die für heute als Predigttext vorgeschlagen ist – denn hier kommt man mit Rechnen nicht besonders weit, zumindest nicht so, wie wir es gewohnt sind. Sie kennen die Geschichte alle, in unseren Bibeln ist sie überschrieben mit „Die Speisung der Fünftausend“ und steht im Lukasevangelium, Kapitel 9:


Als die Apostel zu Jesus zurückkamen, berichteten sie ihm alles, was sie getan hatten. Danach nahm Jesus sie mit sich und zog sich in die Nähe der Stadt Betsaida zurück, um mit ihnen allein zu sein. Aber die Leute merkten es und folgten ihm in großen Scharen. Jesus wies sie nicht ab, sondern sprach zu ihnen über das Reich Gottes; und alle, die Heilung nötig hatten, machte er gesund. Als es auf den Abend zuging, kamen die Zwölf zu ihm und sagten: »Schick die Leute fort, dann können sie in die umliegenden Dörfer und Gehöfte gehen und dort übernachten und etwas zu essen bekommen. Hier sind wir ja an einem einsamen Ort.« Jesus erwiderte: »Gebt doch ihr ihnen zu essen!« – »Wir haben fünf Brote und zwei Fische, mehr nicht«, entgegneten sie. »Oder sollen wir uns etwa auf den Weg machen und für alle diese Leute Essen kaufen?« (Es waren etwa fünftausend Männer dabei.) Da sagte Jesus zu seinen Jüngern: »Sorgt dafür, dass sich die Leute in Gruppen von je etwa fünfzig lagern.« Die Jünger taten, was Jesus ihnen gesagt hatte. Als alle sich gesetzt hatten, nahm Jesus die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf und dankte Gott dafür. Dann zerteilte er die Brote und die Fische und ließ sie durch die Jünger an die Menge verteilen. Und alle aßen und wurden satt. Am Schluss wurde aufgesammelt, was sie übrig gelassen hatten – zwölf Körbe voll.

- Neue Genfer Übersetzung


Liebe Gemeinde, eine große, eine unglaubliche Geschichte mit einer noch größeren Menschenmenge. Lassen Sie uns am Rand Platz nehmen, bei Jesus und den Jüngern  – denn die sind uns, gerade in dieser Geschichte, sehr nah und sehr ähnlich.


I.                   Das Ende der Addition



Um sie herum: Eine riesige Menschenmasse. Unsere Bibeln überschreiben die Szene mit „Die Speisung der Fünftausend“, das stimmt aber nicht ganz: Es sind allein fünftausend Männer, insgesamt also mindestens 15.000 Menschen, die sich da versammeln, ungefähr so viele, wie bei einem Abend in die lachende Kölnarena kommen. Warum die Einzelnen alle gekommen sind? Wir wissen es nicht, wir wissen nicht, was sie suchen, was sie sich von Jesus erhoffen, was sie hören oder sehen wollen. Wir wissen nur, dass da ein brennendes Interesse ist – und dass sie Hunger haben. Vielleicht war es damals so wie heute: Seit längerem spricht man von einer „Wiederkehr der Religion“, einem neu entdeckten Interesse, vielleicht sogar einer Sehnsucht nach mehr, als wir sehen und erklären können. Unsere Kirchen werden zwar nicht voller, eher im Gegenteil, aber Spiritualitätsseminare haben Hochkonjunktur, der esoterische Büchermarkt boomt, alternative Medizin wird salonfähig.


Damals, am Rand der Stadt Betsaida, stillt Jesus die Sehnsucht der Menschen nach einer Perspektive, die über ihre eigene Gegenwart hinausgeht, und ihre Sehnsucht nach Heil-Sein und Ganz-Sein: Er sprach zu ihnen über das Reich Gottes; und alle, die Heilung nötig hatten, machte er gesund.



Was machen die Jünger?


(c) S.Hofschlaeger /pixelio.de
Sie zählen und rechnen – und stellen fest: Es reicht nicht. Fünf Brote, zwei Fische – das langt als Mahlzeit für zwei bis drei Menschen. Wie man es auch dreht und wendet: Es reicht nicht. Und so wollen sie die Leute nach Hause schicken, weil das, was sie haben, die Menge unmöglich satt machen kann.

Und hier sind uns die Jünger, glaube ich, sehr nah. Uns als Gemeinde, uns als Christinnen und Christen, die in der Kirche aktiv sind. Das kennen wir doch: Wir rechnen und zählen – und stellen auch fest: Es reicht nicht, hinten und vorne nicht.


So gewinnt diese Geschichte gerade bei uns im Rheinland eine ganz akute Brisanz: In diesen Tagen geht ein Brief unseres rheinischen Präses an die Kirchenkreise und Einrichtungen der Landeskirche heraus. Vor Kurzem hat die Kirchenleitung noch einmal nachgerechnet und festgestellt, dass wir weitaus weniger Geld haben und noch weniger haben werden, als wir bisher gedacht haben. In einer Videobotschaft hat der Präses am Mittwoch gesagt: „Die Situation ist dramatischer, als wir angenommen haben… Wir werden uns kleiner setzen müssen.“ Im Klartext heißt das: Bis 2018 sollen 35% aller Ausgaben eingespart werden. In vielen Gemeinden sieht es nicht anders aus.


So sitzen wir da, Seite an Seite mit den Jüngern, und zählen und stellen fest: Was unterm Strich steht, ist nicht genug; was wir haben, was wir geben können, das reicht nicht. Mit keinem Rechentrick der Welt wird aus fünf Broten und zwei Fischen eine Mahlzeit, die 15.000 Menschen satt machen kann. Kein Wunder also, dass die Jünger sagen: Schick die Leute weg. Das ist rechnerisch nachvollziehbar, das ist buchhalterisch sinnvoll, es bleibt aber ein Skandal: Die Menschen sollen hungrig nach Hause gehen, weil das, was zur Verfügung steht, nicht reicht. 


Sie wissen, wie die Geschichte weitergeht: Niemand geht hungrig nach Hause. Weil zu dem, was da ist, was die Jünger den Menschen bieten können, etwas dazu kommt. Weil Gott seins dazu gibt. Weil etwas geschieht, das nicht in der Bibel, sondern von uns, weil wir nicht mehr damit rechnen und es als etwas Außergewöhnliches sehen, als ein Wunder bezeichnet wird:


Als alle sich gesetzt hatten, nahm Jesus die fünf Brote und die zwei Fische, blickte zum Himmel auf und dankte Gott dafür. Dann zerteilte er die Brote und die Fische und ließ sie durch die Jünger an die Menge verteilen. Und alle aßen und wurden satt.


II.                Das Wunder: Emergenz und Synergie



Liebe Gemeinde, ich weiß nicht, ob Ihnen aufgefallen ist, wie unspektakulär das Geschehen hier beschrieben wird. Jesus nimmt das Brot und die Fische, spricht ein kurzes Tischgebet, zerteilt sie und lässt seine Jünger sie verteilen. Und alle werden satt. Einfach so. Einfach unglaublich. Oder?
Was da passiert, irgendwo im Niemandsland vor Betsaida, wird nicht näher beschrieben, nicht erklärt. Was da passiert, übersteigt unsere Möglichkeiten: Die finanziellen Möglichkeiten der Jünger, und womöglich auch unsere Möglichkeiten, zu verstehen. Oder?


Es gibt immer wieder Deutungsversuche, das Wundersame, das Nicht-Verrechenbare, das Unbegreifliche dieser Geschichte weg zu erklären. Zum Beispiel, indem man etwas dazu erfindet und sagt: Dann hat eben jeder etwas zu Essen gekauft und die Leute haben es untereinander geteilt. Das ist ein schöner Gedanke, aber wenn man sich die Szene konkret vor Augen führt - 15.000 Menschen, arme Menschen übrigens, die alle irgendwo auf dem Land auf die Schnelle etwas zu Essen besorgen sollen – dann ist diese Deutung fast noch unglaubwürdiger, noch unrealistischer als zu sagen: Es ist eben ein Wunder.



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Ein Wunder übrigens, das wir, glaube ich, alle schon einmal erlebt haben. Vielleicht kennen Sie den Spruch: „Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile.“ In vielen Lebensbereichen passiert es, dass Kräfte zusammen wirken und aus diesem Zusammenwirken etwas entsteht, das mehr ist als man von den Einzelteilen hätte voraussehen können, mathematisch ausgedrückt: 1+1=3. Es klingt paradox, und ist es auch, aber alles Leben auf unserem Planeten hängt davon ab: Aus zwei kleinen Wasserstoffatomen und einem Sauerstoffatom entsteht etwas völlig Neues, nämlich Wasser, das gefrieren und verdampfen kann. Aus unzähligen kleinen Zellen werden Knochen, Organe, Muskeln, Haut und Haare – und doch sind wir als Mensch mehr als nur die Einzelteile eines biologischen Bausatzes zusammen. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. Das gilt auch für den zwischenmenschlichen Bereich; vielleicht haben sie es schon einmal erlebt, dass ein paar Menschen gemeinsam etwas gestemmt bekommen oder etwas schaffen, das weit über die kombinierten Einzelleistungen hinausgeht. In der Wissenschaft werden diese Prozesse im Moment untersucht – und doch bleibt immer ein Rest des Unerklärbaren zurück. Wir können nicht erklären, wir können nur darüber staunen, wenn geteilte Freude doppelte Freude wird. Aus eins und eins wird drei, aus fünf Broten und zwei Fischen eine Mahlzeit für 15.000.


Liebe Gemeinde, ich würde sagen: Wenn so etwas passiert, dann gibt Gott seins dazu zu dem, was wir haben und was allein nicht ausreichen würde.  


III.             Höhere Mathematik: Mit Gott rechnen

Und das gibt mir Hoffnung, zum Beispiel im Blick auf die Zukunft der Kirche. Das ermutigt mich, die Rechnung nicht ohne Gott zu machen, etwas schlagwortartig gesagt: Die Speisung der mehr als 5.000 Menschen lehrt uns die höhere Mathematik, die mit Gott rechnet.


Dass solches Rechnen sich lohnt, habe ich in der letzten Woche in den Niederlanden gesehen. Die Protestantische Kirche der Niederlande steckt in einer schwierigeren Situation als wir: Während wir damit rechnen, dass wir bis 2030 ein Drittel unserer Kirchenmitglieder verlieren, ist man dort davon ausgegangen: Wenn alles so weitergeht, dann gibt es uns 2020 nicht mehr. Was wir haben, reicht nicht. Diese Einsicht hat dort zu einem Umdenken geführt, unter anderem hat man sich darauf besonnen, was es heißt, Kirche zu sein: Gemeinsam Gottes Wort zu hören, gemeinsam zu beten und gemeinsam zu essen – also das, was die Menschen in unserer Geschichte am Rande von Betsaida auch tun. Fast jedes der sehr zum Teil sehr erfolgreichen missionarischen Projekte, die wir besucht haben, konzentriert sich auf diese Grundvollzüge christlichen Glaubens: Bibel. Beten. Essen. Und es passieren wahre Wunder.


 
(c) Dieter Schütz / pixelio.de

Liebe Gemeinde, mir machen solche Geschichten Hoffnung. Sie lösen nicht die schwierige Lage, in der sich die Kirche befindet, auf. Und sie versprechen uns auch nicht, dass wir alle Angebote, die wir derzeit als Kirche machen, beibehalten können. Aber sie erzählen davon, dass Gott noch lange nicht am Ende ist, wenn wir unterm Strich keine Zukunft mehr sehen: Auch dort, wo wir zählen und feststellen: Was wir zu geben haben, das reicht nicht – da wird Gott seins dazu geben und dafür sorgen, dass Menschen sein Wort hören, gemeinsam beten und essen.


Ich war, wie gesagt, nie gut in Mathe. Vielleicht möchte ich sie gerade deswegen lernen: Die höhere Mathematik, die mit Gott rechnet.

Amen.

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