Montag, 8. Juli 2013

Niederländische Notizen - Teil 1: Vom Ende der Selbstverständlichkeit

Vla, hagelslag, stroopwaffels, Marco van Basten, klompen – in den Niederlanden gibt es vieles, das es anderswo selten bis gar nicht gibt. Unter anderem, wenn man auf die Kirchengeschichte der letzten Jahrzehnte guckt, ein klares Krisenbewusstsein und eine entwaffnend optimistische Art, damit umzugehen. Deswegen fand Anfang Juli ein vom westfälischen Amt für missionarische Dienste organisiertes Pfarrkolleg in den Niederlanden statt, bei dem Kolleginnen und Kollegen aus EKiR und EKvW Inspiration und eine Antwort auf eine Frage suchten, die sich vielleicht auch in Deutschland in nicht allzu ferner Zukunft stellen könnte wird: 

Was passiert eigentlich, wenn alle Möglichkeiten, sich über Relevanz und Zukunftsfähigkeit der eigenen Volkskirche Illusionen zu machen, erschöpft sind? 

Vor dieser Frage stand, bzw. steht seit einigen Jahren die Protestantse Kerk in Nederland (PKN). Nachdem 2004 ein langer und schwieriger, unter dem Motto Samen op weg (gemeinsam unterwegs) unternommener  Fusionsprozess der drei größten evangelischen Konfessionen (hervormd, gereformeerd und luthers- Wikipedia weiß mehr) zum Ende gekommen war, stellte man bald darauf fest: Ups. Die Mitgliedszahlen sinken rapide, Kirchen stehen leer und werden veräußert (einen Einblick in die Praxis bietet ein NRZ-Artikel über eine auf Kirchengebäude spezialisierte Immobilienfirma), etwa eine Millionen Niederländer, oft mit einem ethnischen Hintergrund auf einer der ehemaligen Überseekolonien, sind in sog. Migrantenkirchen organisiert, mit denen es wenige bis gar keine Kontakte gibt. 

Den daraufhin eingeleiteten Umdenk- und Umprofilierungsprozess beschrieb Dr. Arjan Plaisier, Mitglied der niederländischen Kirchenleitung, mit der von ihm wesentlich mitverfassten (und mit 47 Miniseiten erfreulich kurzen) Handreichung Leben aus der Kraft Gottes (De hartslag van het leven). Am Anfang stand und steht das ernüchternde Bewusstsein, zu einer „schweigenden Kirche ohne Zukunft“ geworden zu sein. Dies führte zunächst zu einer Rückbesinnung auf die Frage, was ‚Kirche‘ eigentlich ist. Die Handreichung gibt eine ebenso simple wie zu manchen sonstigen Äußerungen großer Volkskirchen quer stehende Antwort:

Es ist ein besonderes Privileg, zu Glauben und zur Kirche zu gehören. […] In der Kirche werden wir in das Leben mit Gott eingeführt. Die Kirche ist mehr als nur ein Zusammenschluss von Menschen. Sie existiert durch die Gnade Christi. Er lebt und gibt Leben. Jesus ist keine unbestimmte Idee „von früher“, sondern eine Wirklichkeit hier und jetzt. Wo zwei oder drei in Seinem Namen zusammen kommen, da ist Er mitten unter ihnen. Da ist Kirche. […] Es gab eine Zeit, in der man meinte, die Kirche würde ganz selbstverständlich fortbestehen. Aber diese Zeit ist vorbei. Das kirchliche Leben ist vielerorts arg zusammengeschrumpft. Das Ende der Selbstverständlichkeit verunsichert viele Menschen und macht unsicher. Fragen wir Gemeindeglieder heute, wozu die Kirche dient, bleibt es oft still. Und es wird oft noch stiller wenn wir fragen: „Was glaubst du?“ […] Was wollen wir mit diesem Positionspapier erreichen? Das Ziel ist, Mut zum Glauben zu machen und zu zeigen, dass Kirche auch in dieser Zeit (wieder) Sinn macht. Wir denken dabei nicht an irgendwelche Tricks oder spektakuläre Neuerungen. Das würde nur kurz helfen. Nein, wir wollen zurück zum Kern, zum Ursprung: zum Herrn der Kirche.
- Leben aus der Kraft Gottes, 7f.

refdag.nl
Es lohnt sich, das ganze Positionspapier mal durchzulesen. Die Rückkehr zum Kern und Ursprung bedeutet in der niederländischen Lesart eben nicht das Festhalten an alten Formen und irgendwie gesicherten Pfründen, sondern das kreative Ausprobieren neuer Formen, das Evangelium versteh- und lebbar zu machen. In der Praxis geschieht das, in Anlehnung an die fresh expressions-Initiative der Church of England, durch die Förderung exemplarischer „Experimentierfelder“ (pioniersplekken), die durch ein in der PKN eingerichtetes Amt gecoacht und unterstützt werden um „den Enthusiasten Raum zu bieten“.

In diesem landeskirchlichen Missionswerk arbeitet Nynke Dijkstra, unsere zweite Referentin am ersten Abend in den Niederlanden. Seit 2008 hat sie zunächst die bestehenden missionarischen Aktivitäten innerhalb der PKN eruiert – und uns den guten Rat gegeben: „Don’t start with action.“ Nach einer einjährigen Tour durch 80 Städte war ihr Fazit: Skeptisch sind vor allem die Pfarrer, die ihre lang eingeübten und liebgewonnenen Rollenvorstellungen nicht aufgeben wollen und sich vor allem durch soziologisches Handwerkszeug überzeugen lassen. Weitaus aufgeschlossener seien die Presbyterien und Kirchenvorstände gewesen, die allerdings ihre eigenen Fähigkeiten, über den Glauben zu sprechen, als defizitär einschätzten. Zwei Arbeitsschritte schlossen sich an diese groß angelegte Untersuchung an: Die Zusammenarbeit mit einem soziologischen Institut (das mit der SINUS-Milieustudie vergleichbare Informationen lieferte) und der Herstellung von Material, mit dessen Hilfe in den Presbyterien und Gemeinden die Auskunftsfähigkeit im Blick auf den eigenen Glauben eingeübt werden kann, darunter ein Buch mit „zehn schwierigen Fragen“ (tien moeilijke vragen) und, was ich besonders toll fand, ein Übungs-Set mit DVD und allem Schnickschnack, um in Presbyterien die religiöse Sprachfähigkeit einzuüben. 

Auf institutioneller Ebene ist die gezielte Förderung innovativer Projekte angesiedelt, die vier Voraussetzungen erfüllen müssen: Sie müssen explizit missionarisch sein, sie müssen eine besondere Zielgruppe, die bislang nicht im Focus der Gemeindearbeit steht, anvisieren, sie müssen kontextbezogen sein – und von anderen protestantischen Kirchen in der Umgebung unterstützt werden. Diese Bedingungen scheinen mir durchaus sinnvoll zu sein, denn sie minimieren die Versuchung, die zumindest in Deutschland nicht allzu klein ist, einfach bestehende Gemeindearbeit mit einem neuen Etikett zu versehen und mit gutem Gefühl alles beim Alten zu belassen. Dass solche Projekte nicht einfach so aus dem Bestehenden hervorwachsen, wird nicht verschwiegen: „You need the pioneer type“.

In einer weiteren Runde durch die Niederlande, die demnächst ansteht, soll es um das Potenzial des Gottesdienstes gehen – also relativ spät im Rahmen des Projektes, denn, so Nynke Dijkstra: „The Gottesdienst is the last thing to think about.“ Das überrascht, gilt doch bei uns oft die Innovation des Gottesdienstes oft als Startpunkt einer Gemeindeerneuerung, etwa durch die Einführung der mittlerweile vielerorts etablierten „Gottesdienste im zweiten Programm“. Den Gedanken finde ich spannend und sinnvoll, wenn klar ist, dass es auch bei den anderen missionarischen Projekten um geistliche Aktivität geht. Gleichzeitig zeigt sich bei vielen Projekten und in vielen lebendigen Gemeinden auch in den Niederlanden, dass das nicht der Königsweg sein muss. 

Auf die Frage nach den wichtigsten Grundsätzen für erfolgreiche missionarische Neuorientierung antwortete Dijkstra wie aus der Pistole geschossen: „Three things: Prayer. Communication. Leadership. – Drei Dinge: Gebet, Kommunikation, Leitung.“ Sehr eindrücklich erzählte sie von den Reaktionen, wenn sie in Gemeinden fragt, ob man dort für einen Aufbruch beten würde – und in der Sitzung vorschlägt, gemeinsam zu beten. Und zwar, und das machte sie für mich nicht nur sympathisch, sondern auch glaubwürdig, ganz ohne evangelikales Pathos, weil sie, wie sie sagte, dies auch erst neu einüben musste. Jedenfalls frage ich mich im Stillen, wie oft wohl in Presbyterien (vom obligatorischen Vaterunser am Ende jeder Sitzung) gemeinsam gebetet wird und ob und wie sehr wir glauben, dass das irgendetwas ändern würde.


Am Ende eines langen, gleichermaßen inspirierenden wie herausfordernden ersten Abends sind mir drei Eindrücke besonders im Gedächtnis geblieben:

1.       Das ungeschönte Krisenbewusstsein, ein „sense of urgency“ und das Eingeständnis, mit den über Jahrzehnte selbstverständlichen und gleichermaßen diffusen Konzepten von „Volkskirche“ an einem Ende angekommen zu sein. Das vermisse ich in Deutschland, wo die Situation sicherlich weniger prekär als in den Niederlanden ist. Aber es kann durchaus auch nur eine Frage der Zeit sein, bis auch wir gar keine andere Wahl mehr haben. Vielleicht sind wir noch nicht so weit – bekanntermaßen ist Leiden ja einfacher als Verändern. Und vielleicht ist unser Leidensdruck noch nicht groß genug, vielleicht sind die pseudotheologischen Beschwichtigungsformeln, mit denen wir unsere Statistiken schön reden, noch zu wolkig und zu mächtig. Vielleicht kommen wir erst dann an diesen Punkt, wenn die letzte Generation, die noch durchgehend von kirchlichen Riten und Symbolen begleitet aufgewachsen ist und für die wir mit den üblichen Gottesdienstzeiten und –formen, Geburtstagsbesuchen, Gemeindebriefen und diversen Gruppen und Kreisen gefühlte 80% unsere Ressourcen verwenden, ausgestorben ist.

2.       Die erfrischende Klarheit, mit der die Vortragenden die Sachlage, ihre Impulse und ihre Inspirationen schilderten: „Die Kirche ist vielleicht am Ende – aber Gott nicht.“ Das mag an der Struktur der niederländischen Sprache liegen, das mag auch daran liegen, dass beide in einer ihnen fremden Sprache referierten – es soll ja auch eine gute Übung für Predigten sein, weil begrenzte Sprachkompetenz zur Klarheit nötigt. 

3.       Die Rückbesinnung auf das Wesentliche, auf das, was Kirche im Kern ausmacht. Das würde, zumal in Deutschland, möglicherweise einen Abschied von vielen liebgewonnenen Aktivitäten unter den Dächern der Gemeindehäuser bedeuten – bei den Niederländern standen jedoch nicht die „notwendigen Abschiede“, sondern der Blick auf das Neue im Vordergrund. 

Soweit also die (natürlich schon etwas verdauten und zusammengefassten) Eindrücke vom ersten Abend. Wie all das in der Praxis aussehen kann, welche Eindrücke sich bei unseren Besuchen in niederländischen Gemeinden bestätigt haben und welche Fragen dort neu aufgebrochen sind – morgen gibt es hier mehr dazu!    

 Rustikales Wohnen in Amerongen...

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