Dienstag, 9. Juli 2013

Niederländische Notizen - Teil 2: Ermutigendes aus Amsterdam

"Traum von Amsterdam,/ der die Hoffnung nahm", singt bekanntlich Axel Fischer. Alles Quatsch, sage ich, zumindest haben uns engagierte Mokkumer bei unserem Besuch verschiedener innovativer Projekte gezeigt, dass die Hoffnung auf eine relevante Kirche alles andere als ein Traum bleiben muss. Drei Gemeinden haben wir besucht, in denen durchweg und auf je eigene Art inspirierende Menschen neue Wege gehen.

Jeruzalemkerk


(c) nl.wikipedia.org
Ein bisschen nach Trutzburg sieht sie schon aus, die in den 1920ern im Amsterdamer Stil erbaute Jeruzalemkerk, die sich über dem Stadtteil De Baarsjes im Westen der Hauptstadt erhebt. Auch von innen sieht sie, bei aller architektonischen Rafinesse und bei aller Wertschätzung für guten alten reformierten Kirchenbau, zunächst nicht unbedingt nach Innovation aus:


Wie gesagt, innovativ sieht es zunächst nicht aus, auch wenn die zahlreichen Aushänge im Eingangsbereich ein aktives Gemeindeleben verheißen. Dann empfängt uns der hiesige Pastor Bas van der Graaf, und der sieht mit Nerdbrille, (in Pfarrerskreisen eher selten gesehen) gut sitzendem Hemd und Jeans schon eher nach "junger Gemeinde" aus. Er führt
uns direkt zu einem kleinen raumplanerischen Kleinod, nämlich in den Cafébereich auf der Empore, genannt van boven. Der Platz oben gefällt mir spontan ausgesprochen gut, weil er unprätentiös und einladend wirkt und gleichzeitig eine Kontinuität zwischen dem Gottesdienst und dem "Danach" herstellt - auch beim Kirchkaffee bleibt man im Kirchenraum. Auf der Brüstung steht Infomaterial, eine alte mechanische Schreibmaschine als Deko und ein paar Kerzen - in Deutschland wäre das wahrscheinlich aus bau- und sicherheitstechnischen Gründen undenkbar, hier sind es charmante kleine Details, die den Raum aufwerten und gleichzeitig deutlich machen, dass die Nachbarn im Nordwesten etwas lockerer an manche Sachen rangehen. 

Einfach "locker" im Sinne von "nachlässig" und "nicht so streng" geht es allerdings in der Gemeinde keineswegs zu, das wird im Gespräch mit Bas van der Graaf ziemlich schnell deutlich: Er bezeichnet seine Gemeinde als "gut orthodox", die Kompromisse bei der Form, nicht aber bei den Inhalten eingeht: In einem ausgesprochenen Zuzugsgebiet versucht die Jeruzalemkerk, Formen des Gemeindelebens anzubieten, die vor allem junge Menschen zum Bleiben und zur aktiven Mitarbeit ermutigen - "junge Menschen wollen machen." Gelegenheit dazu bieten 15 Bibelkreise und ein regelmäßig angebotener Alphakurs, der nicht dem traditionell thematischen Aufbau folgt, sondern aus gemeinsamem Essen und der fortlaufenden Lektüre des Markusevangeliums besteht. Verantwortliches Mitarbeiten findet auf den verschiedenen Leitungs- und Organisationsebenen statt, auf denen sich, in Aufnahme der ministry structure von Willow Creek, an die 100 Personen einbringen. 
Der Gottesdienst folgt einem relativ traditionellen Aufbau, in dem abwechselnd eine Band oder die neu renovierte Orgel spielt. Seine Predigten hat van der Graaf zwar im Laufe seiner Amtszeit gekürzt, kommt aber nach eigenen Angaben dennoch auf gut 20 Minuten - ganz entsprechend der reformierten Tradition und den Bedürfnissen der allsonntäglich etwa 150 Mitglieder zählenden Gottesdienstgemeinde, die ziemlich heterogen (weiß, um die Dreißig, obere Mittelschicht) ist und zu einem nicht geringen Anteil aus Zugezogenen aus dem niederländischen bible belt besteht.

In Erinnerung bleiben mir vor allem die Konzentration auf die Bibel, die in allen Haus- und Studienkreisen im Zentrum steht, die Betonung des gemeinsamen Essens und das Setzen auf eine Freiwilligenkultur, die Gemeindeglieder ernst und in Verantwortung nimmt.

Stroom-West



Eine ganz andere Zielgruppe hat dagegen Rikko Voorberg von der relativ jungen pop-up-church Stroom-West im Blick: Der gelernte Theologe, Künstler und storyteller hat sich, in Sinus-Sprache gesagt, des Milieus der Experimentalisten angenommen - also der Gruppe junger Menschen zwischen 20 und 35, bei denen traditionelle kirchliche Formen schlichtweg keine Chance hat."If you're from the church, you don't have the credit to share anything", ist die lapidare Feststellung Voorbergs, der gleichzeitig bei den jungen Künstlerinnen und Künstlern ein Interesse an religiösen Fragen und Symbolen wahrnimmt, mit dem sie sich von den manchmal fast pauschal kirchen- und religionsfeindlichen Einstellungen früherer Generationen unterscheiden. Nach zwei Jahren des performativen Experimentierens im open space hat sich eine kleine Form der gottesdienstlichen Feier entwickelt:  Man trifft sich zweiwöchentlich am Sonntagvormittag zu einer bottle party irgendwo (nur eben nicht in einer Kirche), bricht das Brot, irgendjemand teilt seine Glaubensgeschichte mit den anderen, am Ende macht ein Kelch mit Wein die Runde - nach Rikko Voorberg die Verbindung aus "Brunch - der Amsterdamer Lebensform schlechthin" mit dem "Abendmahl - der kirchlichen Lebensform schlechthin". Die Arbeit von Stroom-West ist schwer zu beschreiben. Wer sich einen Eindruck verschaffen will, kann das auf der Website des church plants tun, wer Rikko Voorberg in Action erleben will, kann sich Videos ansehen - selbst, wenn man kein Niederländisch versteht, wird den Storyteller erkennen:

 Falls jemanden das gehäufte Vorkommen von Anglizismen in diesem Textteil stört - das ist durchaus beabsichtigt. Denn was mir am stärksten in Erinnerung geblieben ist, ist das freundliche Unverständnis der meisten (weitaus älteren) Kollegen, die mit dem Ansatz von Stroom-West wenig anfangen konnten. Mehr als anderswo wird mir hier deutlich, wie exklusiv milieubezogene Gemeindeformen sind - das gilt aber für unsere traditionellen Formen genauso wie für das performative Milieu von Stroom-West. Deutlich klingt mir auch noch die radikale Voraussetzung in den Ohren, die Rikko Voorberg, der neben seiner halben Stelle als church planter als freischaffender Künstler arbeitet, für seine Arbeit benannt hat: "If I don't question my belief, I don't have any right to question an atheist's belief." Und die trennscharfe Unterscheidung, anhand derer sich nach seiner Erfahrung irgendwann die Gruppe im Umfeld der Gemeinde aufteilt in diejenigen, die an Religion interessiert, vielleicht sogar fasziniert sind, und die, die "surrender to the Gospel" - sich dem Evangelium unterwerfen. Vielleicht hat dieses Projekt mich mehr als alle anderen ins Nachdenken und Grübeln gebracht, weil es mir durchaus schmerzhaft deutlich gemacht hat, dass meine Kirche mir als Grenzgänger irgendwo zwischen Postmaterialismus und Experimentalismus nur wenig Heimat bietet - und dass die nicht selten von Ekelschranken flankierten Milieugrenzen auch mitten durch die Pfarrerschaft verlaufen.      Heilig vuurEine Tochtergemeinde der Jeruzalemkerk ist die neu gegründete Gemeinde Heilig Vuur (Heiliges Feuer) im Amsterdamer Stadtteil Oud West, der im Jahr 2009 ein weißer Fleck auf der kirchlichen Landkarte wurde, als die letzte Kirche ihre Pforten schloss. Pfarrerin Marghrietha Reinders war zunächst mit dem Auftrag unterwegs, zu eruieren, welche Chancen Formen traditioneller Kirchlichkeit in dem Stadtteil, in dem 177 Nationen leben, haben. Ihre Antwort nach mehreren Monaten war ebenso klar wie erschlagend: "I realised: No way. There are no possibilities for traditional church life in this neighbourhood. That is a harsh result, very harsh. And it made me very sad - Ich musste einsehen: Es funktioniert nicht. Traditionelles kirchliches Leben hat in dieser Umgebung keine Chance. Das ist ein hartes Ergebnis. Und es machte mich sehr traurig.Sie und zwei Kolleginnen aus der Gemeindeleitung, übrigens die einzigen Frauen und die einzigen Nicht-Theologinnen, die uns bei unseren Besuchen begegnen, erklären, was sie als das größte Hindernis traditioneller kirchlicher Arbeit erlebten: Diese gehe immer noch von einem Mindestmaß an traditioneller Relevanz aus und wende sich so nur an Menschen, die bereits Erfahrungen mit Kirche gemacht haben. Auch sie beschreiben eine Rückbesinnung auf das kirchliche "Kerngeschäft" als Schlüssel zum Gemeindeaufbau: Ihre erste organisierte Aktivität bestand aus einem Bibelkreis in einer Kneipe; ausgehend von den Geschichten von Jesus und dem Leben und Lehren der Propheten formulierten sie ihr Anliegen: "Die Straße mit der Geschichte Jesu erobern (Conquer the street with the story of Jesus), um so im Kontakt mit Stadtmenschen neue religiöse Sprache zu entwickeln. Mittlerweile auf etwa 300 Mitglieder angewachsen, mietet die Gemeinde Räume in einem kommunalen Begegnungszentrum. Dort finden Filmabende, eine Seelsorgesprechstunde, eine Frauengruppe, Gebets- und Bibelkreise statt, stets mit anschließendem gemeinsamen Essen. Auch hier also wieder der Focus auf Grundvollzüge des christlichen Glaubens, und Marghrieta wird fast energisch, als sie feststellt, was uns auch schon Nynke Dijkstra in aller Deutlichkeit mitgegeben hat: "Without prayer, you cannot do anything." Die Bibelkreise sind erfrischend pragmatisch: "We are quite eager to understand Paul - he addressed the small communities, and we are one of those. - Uns ist sehr daran gelegen, Paulus zu verstehen - er hat sich an die kleinen Gemeinden gewandt, und wir sind eine solche. Neben der großartigen Idee, Bibelkreise in Kneipen abzuhalten (und dem wunderbaren Motto: When (nicht: if!) you lose your church, go to the pub) fasziniert mich in Heilig Vuur vor allem, wie Marghrieta in sympathisch-verhuschter, aber doch glasklarer Weise ihren eigenen Werdegang beschreibt: Ursprünglich eine "linke, marxistische, barthianische Theologin", habe sie festgestellt: "Theology... ja, it's nice... but without connection to people's lifes, it's just a nice hobby." Der etwas argwöhnische Kirchengeschichtler in mir erkennt in dem, was sie sagt, Züge einer klassischen Konversionserzählung, wenn sie sagt, sie sei zu einer "disciple of Jesus", einer Jüngerin Jesu geworden. Allerdings: Sie wertet ihren theologischen Lebenslauf nicht ab und sie beschreibt auch nicht die Bekehrung zu einem amerikanisiert-evangelikalen Lebensstil, sondern ist ihren gesellschaftspolitischen Idealen durchaus treu geblieben. Wer Marghrieta bei der Arbeit folgen will, kann das übrigens hier tun - auch hier hindern mangelnde Sprachkenntnisse kaum daran, einen Eindruck vom Charisma dieser Kollegin zu bekommen. Was vom Tage übrig bleibt...Vieles schwirrt mir nach dem Tag in Amsterdam durch den Kopf. Aus der Jeruzalemkerk nehme ich einen kindlich-trotzigen Wunsch mit: Ich will auch eine Empore mit einer Bar! Und die Frage, ob die Gemeinde so großen Zulauf hätte, wenn nicht rundherum Kirchen geschlossen worden wären. Das schmälert ihre Arbeit keineswegs (Jan Heinrich Claussen hat vor Jahren in der FAZ mal Kluges zu einer notwendigen "Theologie der Kirchenschließung" geschrieben), aber es bleibt eben als Frage.Aus Stroom-West begleiten mich zwei Gedanken: Zum Einen hänge ich weiter an der Milieuthematik. Mir geht zum Beispiel durch den Kopf, dass ich gegen viele kirchliche Arbeitsfelder, mit denen ich schlichtweg nichts anfangen kann, eigentlich kaum Theologisches einzuwenden habe, sondern dass meine Abneigung gegen Piet-Janssens-Lieder, Breitcord und Batik und mit deutschem Akzent intoniertes "Siyahaaamba" viel eher ästhetische Gründe hat, die letztlich mit meinem eigenen, milieuverengten Blick zu tun haben. Ganz hart gesagt: Ich werde mir meiner eigenen Ekelschranken bewusst. Und ich frage mich, ob irgendwann einmal ein Kreissynodalvorstand den Mut aufbringt, statt der x-ten Entlastungs- oder Krankenhauspfarrstelle eine church-planting-Stelle einzurichten. Heilig Vuur schließlich hat mir deutlich gemacht, dass leidenschaftliche missionarische Arbeit auch dann möglich ist, wenn man sich nicht einer amerikanisiert-evangelikalen Subkultur unterwirft. Ganz platt gesagt: Ich kann Gemeindearbeit missionarisch aufziehen, ohne gleich mein SZ-Abo durch Idea Spektrum zu ersetzen. Der Gedanke befreit und ermutigt. Was mich auch noch beschäftigt: Rikko und Marghrieta arbeiten beide mit jeweils nur einer halben Stelle. Wahrscheinlich werden sie ihren Gemeinden noch einiges an ehrenamtlicher Arbeit schenken, aber mir macht es doch deutlich: Die Strukturen müssen nicht das Problem sein. Und die überall zu greifende Konzentration auf Bibel, Gebet und gemeinsames Essen bleibt mir eindrücklich in Erinnerung. Das ist ja eigentlich genau das, was alle externen Experten, die wir ständig um Rat fragen, uns immer wieder gebetsmühlenartig vorsagen: Reduktion aufs Kerngeschäft. Und vielleicht steckt so in dem zunehmenden Bedeutungsverlust der Großkirchen auch eine Chance, die wir gar nicht so oft sehen: Wenn es niemanden mehr interessiert, werden wir irgendwann aufhören, zu jedem nur erdenklichen Thema Denkschriften in die Luft zu blasen oder gesellschaftlichen Ereignissen eine religiöse Goldkante zu verpassen, und mit all dem eigentlich immer nur zu beteuern: "Wir sind auch noch da!"        

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