Dienstag, 9. Juli 2013

Niederländische Notizen - Teil 3: Auf Pilgrimsväterspuren in Rotterdam

Am vorletzten Tag unseres Pastoralkollegs in den Niederlanden, in dessen Rahmen wir uns innovative  Gemeindeprojekte ansehen, geht es in die zweitgrößte Stadt des Landes, nach Rotterdam.

Oude of Pelgrimvaderskerk

Vom pittoresken, im strahlenden Sonnenlicht Urlaubsfeeling versprühenden Kai im Rotterdamer Stadtteil Delfshaven betreten wir die kühle Stille der Oude of Pelgrimvaderskerk (Alte oder Pilgerväterkirche) - und atmen historische Luft: Von hier aus sind 1620 die puritanischen Pilgerväter, die vor religiöser Verfolgung aus England flüchten mussten, aufgebrochen, um auf der Mayflower in die Neue Welt zu ziehen. Das geschichtliche Erbe ist allgegenwärtig, in vielen Räumen hängen Memorabilien, Schaukästen und Infotafeln. Der Kirchraum selbst lässt mein reformiertes Herz höher schlagen: Dunkles Holz, viele Presbyterbänke, im Zentrum des Chorraums eine gewaltige Kanzel mit einem riesigen Schalldeckel (oder, noch schöner gesagt, Kanzelhimmel), davor ein schlichter Abendmahlstisch. An den Wänden die zehn Gebote. Es erinnert mich ein bisschen an die
Synagoge in Kopenhagen, und ich denke: Genauso muss es sein, mehr Bethaus und Schule als Kultstätte. In meine Schwärmereien mischt sich aber auch der Gedanke, dass es auch hier nicht besonders innovativ aussieht, und Pieter L. de Jong, der mittlerweile emeritierte, aber deswegen nicht weniger umtriebige senior pastor der Gemeinde mit schlohweißem Wuschelhaar, der uns empfängt, würde sich wohl auch gegen diese Etikettierung wehren.

Er erzählt von seinen Dienstjahren zwischen 1991 und 2012, während der eine massive white flight einsetzte, also "autochthone (ethnische) Niederländer" den Stadtteil verließen. Sie machen mittlerweile knapp 20% der Einwohnerschaft des Rotterdamer Westens aus. Er beschreibt die Stimmung bei seinem Amtsantritt, zu einer Zeit, als man begann, Kirchen zu verkaufen und Restgemeinden zusammen zu legen. Auch seine Gemeinde verkaufte ihre Kirche, allerdings, und das erscheint als ein äußerst cleverer Kniff, an eine staatliche Stiftung zum Erhalt wertvoller Gebäude, deren Hauptmieter die Gemeinde wurde. Die historische Kirche wurde so erhalten, aber der Gemeindehaushalt ist nicht mehr mit den horrenden Instandhaltungskosten belastet. 
Trotz eines vergleichsweise florierenden Gemeindelebens (mit 150 Gottesdienstteilnehmenden im Jahr 1992) entschied man sich, auf die jüngere Generation in den 20ern und 30ern zu setzen und zwar, wie Pieter erklärt, aus pragmatischen Gründen: "Alte Menschen sind viel flexibler als junge. Junge Menschen suchen Gott und sich selbst, aber sie haben auch mit 30 ihren ersten Job, gründen eine Familie und sind dermaßen eingespannt, dass man auf sie besser eingehen muss. Die Alten ziehen dann mit." Von Niederschwelligkeit im landläufigen Sinne kann dabei keine Rede sein: Wer Mitglied der Gemeinde sein will, verpflichtet sich zum regelmäßigen Gottesdienstbesuch (und das heißt: jeden Sonntag, den man in der Stadt verbringt!) und zur Teilnahme an einem Hauskreis sowie, wenn noch Ressourcen vorhanden sind, in einem Arbeitskreis oder Ausschuss. Der Gottesdienst soll ein Heimkommen ermöglichen und gleichzeitig deutlich machen, dass es um den/die/das "ganz Andere" geht, sprich (wie Pieter es ausdrückt): "Gute biblische Predigt. Zeitung lesen können die jungen Leute selber. Von uns erwarten sie etwas, das sich sich nicht selbst sagen können."

Zu Anfang sehen wir einen Videoausschnitt aus einem Taufgottesdienst - und das eigentlich Spektakuläre ist nicht eine besonders ausgefeilte Liturgie (mit dem, was Pieter de Jong und sein Kollege Martijn van Laar da vorne veranstalten, würden sie aus jedem Thomas-Kabel-Seminar hochkant rausfliegen!), sondern die brechend volle Kirche und die Anteilnahme der Gemeinde an der Taufe der sechs Erwachsenen. Spannend finde ich auch, aber das nur als Randbemerkung, wie ungeniert in dieser doch eher streng reformierten (hervormden) Gemeinde fotografiert und gefilmt wird, während sich in fast jeder neueren Kasualhandreichung ein mehrseitiger Eiertanz findet, was wie wo und wem erlaubt sein kann... Jedenfalls: Es ist offensichtlich nicht die Ästhetik, die anspricht, sondern der Inhalt und die Gemeinschaft, die in der Pelgrimvaderskerk etwa dadurch gefördert wird, dass junge Familien zum Bleiben animiert werden. Der Eindruck verstärkt sich abends beim Hören einer Audioaufnahme eines Gottesdienstes: Das Orgelspiel ist nicht wirklich virtuos, aber gut mitsingbar, die liturgische Sprache einfach und dabei konzentriert, die Predigt ausgefeilt und biblisch fundiert, allerdings ohne große Schnörkel. Das Konzept geht jedenfalls auf: 400 Menschen besuchen durchschnittlich den Gottesdienst am Sonntagmorgen, darunter ein Viertel zwischen 20 und 30 Jahren, zu den Gottesdiensten am Nachmittag und am Abend kommen jeweils noch etwa 100 Teilnehmende. 

Einen zweiten Arbeitsschwerpunkt stellt uns Martijn van Laar vor, seines Zeichens missionary minister und als solcher mit der Arbeit der Gemeinde im Stadtteil betraut. Einen Großteil dieser Arbeit macht die Begegnung mit Muslimen aus, die Martijn als äußerst fruchtbar empfindet: In einem Dialog auf Graswurzelniveau (vorwiegend junge Leute treffen sich in gemeinsam vorbereiteten und getragenen Gesprächsgruppen) treffen Menschen inmitten der hitzigen Debatte um die "Islamisierung" der Gesellschaft zusammen und lernen mit- und voneinander - Christen und Muslime suchen gemeinsam "der Stadt Bestes" (Jer 29,7). Für die Gemeinde bedeutet dies die Chance, sich über Inhalte und Konsequenzen ihres Glaubens klarer zu werden und, redend wie handelnd, Rechenschaft abzulegen - "because Muslims ask the right questions". Gleichzeitig bleibt mir etwas im Ohr, das so ähnlich klingt wie das, was Rikko Voorberg zum Kontakt mit Atheisten gesagt hatte: "The missionary knife cuts on both sides - Das Messer der Mission schneidet nach beiden Seiten." Der Dialog verändert beide, und es scheint ihnen und dem Stadtteil gut zu tun.

Geloven in Spangen

Am Nachmittag geht es weiter zu einer church plant der Gemeinde im deutlich weniger pittoresken Stadtteil Spangen. Einige Zahlen können vielleicht einen ganz guten Eindruck von den Lebensumständen jenseits des "Zaubertunnels" vermitteln: 80 Nationalitäten bei knapp 10.000 Einwohnern, von denen 54% ohne Grundbildung sind, 33% kein Niederländisch sprechen, 21% Sozialhilfe beziehen und 33% unter der Armutsgrenze leben. In dieser Realität betreibt Nico van Splunter das Projekt Geloven in Spangen (Glauben in Spangen), bei dem zwischen diakonischem und missionarischem Handeln nicht zu trennen ist: Neben einer Vielzahl sozialer Aktivitäten (zum Beispiel der Vermittlung von Sprachpartnern - taal buddies -, die Frauen mit Migrationshintergrund, die ihre Wohnung nicht verlassen, Niederländisch beibringen) finden in einer Schule Gottesdienste mit Trommeln und einer Kurzpredigt statt, von denen einer im Monat eine doe-viering, also ein "Mitmach-Gottesdienst" ist, bei dem die Gemeinde mit einem praktischen Auftrag hinausgeschickt wird. Bei einem solchen Gottesdienst, in dem es um das Reich Gottes ging, hat man, so erzählt Nico, die Gemeinde mit Digitalkameras ausgestattet und sie gebeten, an diesem Sonntagvormittag Fotos im Stadtteil zu machen von Situationen, in denen sie das Reich Gottes angebrochen oder noch in weiter Ferne sehen (noch so eine Idee, die bei mir unter "Will! Ich! Auch!" abgespeichert wird). Daneben gibt es Alphakurse, eine Gruppe, die für den Stadtteil und die Menschen betet, Sozialberatung und vieles mehr; die Gemeinde ist Teil der internationalen Initiative Serve the City. Und natürlich wird viel gegessen.

Die aus ursprünglich fünf Personen bestehende Kerngruppe ist mittlerweile auf 30 Mitarbeitende angewachsen, die unter anderem damit beschäftigt sind, Mitglieder der Gemeinde für die Übernahme eigener Verantwortung zuzurüsten. Das erklärte Ziel ist es, die Initiative irgendwann ganz in die Hände des Stadtteils zu übergeben - so wie die Hauptaufgabe des Kirchenpflanzers Nico von Splunter darin besteht, sich selbst überflüssig zu machen. 


Auf dem Weg zurück nach Amerongen...

...denke ich viel nach über die großartigen Initiativen und die überaus sympathischen Menschen, die wir in Rotterdam getroffen haben. Grandios finde ich immer noch die Idee mit dem Kirchenverkauf. Sicherlich geht es nicht überall so einfach, und natürlich setzt es einiges an Mut voraus, die Herrschaft im eigenen Haus aufzugeben. Aber ich sehe auch, wie einige Gemeinden in Deutschland unter den finanziellen Lasten altehrwürdiger Gebäude ächzen oder der Erneuerung des Gottesdienstes durch die Architektur Grenzen gesetzt sind. Solche Aspekte sind mir wichtig, gerade angesichts der momentanen Anstrengungen in der Praktischen Theologie, das Konzept der "Heiligen Orte" für den Protestantismus salonfähig zu machen und so kirchlichem Bestitzstandswahrungsdenken noch mehr Argumente an die Hand zu geben.  

Auch in Rotterdam ist uns wieder die Konzentration auf das "Kerngeschäft" begegnet - Bibel. Beten. Essen. Und eben auch: Tun. Das hat mich sehr beeindruckt - die zumindest auf Gemeindeebene kranke Trennung zwischen Kirche und Diakonie ist hier (noch?) nicht vollzogen.

In Spangen hat mich begeistert, dass die Verantwortlichen hier nicht auf gut ausgebildete Menschen zielen, um ihnen Leitungsaufgaben anzutragen, sondern auf die Zurüstung der Menschen vor Ort setzen. Erinnert ein bisschen an den schönen Satz, der vor einem Jahr oder länger mal ein kurzzeitiges Facebook-Meme war: Gott beruft nicht die Qualifizierten - er qualifiziert die Berufenen

Schließlich bleibe ich auch, noch einmal, am Konzept des church plantings hängen, diesmal eher an der Person des Kirchenpflanzers, dessen oberstes Ziel es ist, eine Arbeit in Gang zu bringen, die ihn selbst überflüssig macht und ihn irgendwann weiter ziehen lässt. Sehr apostolisch-paulinisch, das. Und sehr weit weg von so mancher pastoraler Praxis in Deutschland...

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