Mittwoch, 27. Juli 2016

Warme Sachlichkeit, Kohlenstaub. Rezension von "Zarte Takte tröpfelt die Zeit" von Marlies Blauth



Manche Bücher, manche Texte lesen sich anders an anderen Orten. Man liest sie, und findet sie schön. Dann bringt man sie an die Orte, die sie beschreiben, liest sie, und stellt fest: Sie sind wahr. bergisches land heißt ein Gedicht. "in jedem haus wohnte / ein gott oder jesus". Das wusste ich. Also dass Wuppertal und das Bergische an sich und historisch bedingt um einiges frömmer ist als das Rauf und Runter der Rheinschiene. Beim ersten Lesen des Gedichts, irgendwo im letzten Sommer in Köln, nicke ich wiedererkennend. Jetzt, nach einem Dreivierteljahr Wuppertal, nicke ich beim erneuten Lesen wieder, aber anders als vorher. Langsamer, ein bisschen wissender. "ein karger segen war das / aber seelenkleidung gegen den wind". Und ich denke an Beerdigungs- und andere Gespräche mit Menschen, die "im Anfang" und "ein auf zwei Wochen" sagen und die einen Glauben haben, der ein bisschen ist wie Oppas Henkelmann: Einfach dabei, solide, eher zweckmäßig als elegant, von Omma mit Liebe gefüllt, wärmt und macht satt, und die Enkel denken manches Mal, dass das doch ganz praktisch und rührig war und fragen sich, was sie selbst in der Mittagspause essen sollen, wenn der Sushibastler, der Frittenschmied oder der Dönerdreher um die Ecke doch pleite machen würde. Ich schweife ab, aber gerade das geht gut mit diesem Buch. "irgendwo zwischen / almengrün und müdgrau / schlängelt sich meine erinnerung / über wege". Ich habe keine Ahnung, was Almen sind, aber ich weiß sofort, welches Grün sie meint, und welches Grau. Und ich kenne die Straßen und Wege, die um Wuppertal herum unelegante Pirouetten drehen, weil wieder mal ein Berg (oder, wie man hier sagt, "eine Höhe") im Weg oder zu steil war. 

Überhaupt ist das Buch ein sehr nordrhein-westfälisches. Die Autorin/Zeichnerin/Malerin/Denkerin stammt aus Dortmund und ist über Wuppertal an den Niederrhein gekommen. Und das spürt, sieht, liest, zumindest ahnt man, beim Lesen und Blättern. "Niederrhein" sagt der Kopf beim ersten Betrachten der Titelgrafik, und setzt in Gedanken kleine Ortsschilder zwischen die fließenden Farben. "Wachtendonck", "Straelen", "Kerken", und eher "Willich" als "Dinslaken". Auch die für ein paar Groschen bereiste kleine Heimat (Erinnerung/ Am Kiosk) ist sehr regionalspezifisch - versuchen Sie mal, in Baden-Württemberg irgendwo an einer Straßenecke für einen Euro eine gemischte Tüte zu bekommen. Und die Kohle! Sie hinterlässt Spuren, nicht nur in den besungenen Ruhrgebietsorten ("mein gold ist immer noch / in kohlepapier verpackt"), sondern auch in den Bildern, die hier und da in das Büchlein eingestreut sind und insgesamt für ein lockeres, atmiges, aber kein überspanntes Layout sorgen.

Form und Inhalt gehören bekanntlich zusammen, und was über das Layout gesagt wurde, trifft vielleicht auch den Inhalt am ehesten: Das Nordrhein-Westfälische. Das Lockere, aber nicht Haltlose. "Bodenständig" mag man von Lyrik ja nicht sagen, das klingt zu sehr nach Knittelversen, auch "Heimatdichtung" trifft es nicht. Eher... unaufgeregt-scharfsichtig. Blauth stellt fest, beobachtet Großes und Kleines, ohne eigenes Betroffensein zu verleugnen, aber auch ohne den Leser mit eigenen Regungen zu beelenden. Wenn es so etwas gibt, würde ich es "warme Sachlichkeit" nennen, weil es gefühlig ist und zugleich präzise: "Wenn sich die Tage zusammendrücken / man fahle Reste aufsammeln muss / und die Gedanken schon renoviert / im Hintergrund stehen." Unprätenziös, und dabei preziös in der eigentlichen Wortbedeutung von "kostbar". Man spürt den Asphalt und ahnt den offenen Himmel, hört im inneren Ohr die "dunkel gekochte Sprache".

Thematisch führen die Texte in die Lebensmitte. An vielen Stellen ist von "früher" die Rede, von Erinnerungen und dem sich einstellenden Gefühl der Endlichkeit des Lebens, ohne dass es allzu sentimental würde (anders als, wenn man an der Stelle einmal mäkeln darf, der etwas staksige Buchtitel es nahelegt) - der Kopf, der den Blick zurück wendet, ruht auf den Schultern des Jetzt, die Zeiten "verketten sich" im wiedersehen. Was Comeen sind, müsste ich googlen, ich muss es aber auch gar nicht wissen, sondern folge, wie auch an anderen Stellen, einfach dem Blick, der nicht jedes Geheimnis preisgibt.

In Kürze: Das Buch ist von Marlies Blauth, heißt "Zarte Takte tröpfelt die Zeit" und ist auf teurem und handgeschnittenem Papier im Wuppertaler NordPark-Verlag erschienen. Und Ihr solltet es kaufen und immer wieder lesen.

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