Sonntag, 26. November 2017

Tick-Tack-Oma und Adressbuch | Predigt über Dan 12,1b-3 am Ewigkeitssonntag

Die Ticktack-Oma hatte so ein kleines Adressbuch. Beim Trauergespräch lag es auf dem Tisch, sonst hat es immer da gelegen, wo es hingehört: Neben dem Telefon, das noch ein eigenes Tischchen mit dazugehöriger Sitzbank hatte. Die Namen darin: Alle mit Bleistift reingeschrieben. Nach ihrem 90. Geburtstag hat sie es angeschafft, hat die Namen all derer, die noch lebten, übertragen. Es waren weniger als die, die sie rausgelassen hat. „Ich bin doch eine der Letzten“, hat sie gesagt, „und ich bin es leid, die Namen von denen, die ich überlebt habe, durchzustreichen und jedes Mal, wenn ich eine Postkarte schreiben will oder eine Nummer raussuche, darüber zu stolpern. Jetzt radiere ich sie aus.“ Dann hat sie gelacht. „Und wenn ich doch noch jemand Neues kennen lerne, ist genug Platz!“ 


Neunzigjährige haben oft diesen Blick auf Leben und Tod. Einige derer, deren Namen wir heute hier genannt haben, hatten schon lange gesagt: „Es ist doch gut. Es reicht mir mit dem Leben.“ Man guckt anders auf das Leben, wenn die Grenze langsam aus dem Nebel auftaucht. Man sortiert, gewichtet vielleicht nochmal neu: Das, was früher so wichtig war, verliert an Bedeutung. Und anderes wird unschätzbar wertvoll. „Herr, lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ 

Der Ewigkeitssonntag gehört den Grenzgängern. Denen, die die Grenze passiert haben, und denen, die auf der anderen Seite stehen geblieben sind und ihnen nachblicken. Am letzten Sonntag des Kirchenjahres, wenn die Tage kürzer und die Menschen dünnhäutig sind, versammeln wir uns und rücken zusammen. Wir teilen das Brot, das wir haben, miteinander, reichen es herum, Hände berühren sich, Blicke werden getauscht, kurz, flüchtig, ein leises „Danke“, ein etwas lauteres „Amen“, eine stille Träne. Wir hören Namen, die etwas in uns zum Klingen bringen: Schmerz. Trauer. Sehnsucht. Dankbarkeit. Erleichterung. Oder irgendetwas anderes, das nur wir fühlen und das wir niemandem verraten. Wir hören Namen wie Abkürzungen für ganze Lebensgeschichten. Manche Geschichten sind länger, andere kürzer. Manche zu kurz. Alle ausnahmslos so vielschichtig und tiefgründig, dass kein Roman der Welt sie ganz erzählen könnte. Wir hören Namen, die von Klingelschildern, aus Kundenkarteien, Telefonbüchern und Geburtstagskalendern verschwunden sind – oder bei denen wir es einfach noch nicht übers Herz gebracht haben, sie aus dem Handy zu löschen. 

Am Ewigkeitssonntag blättere ich in der Bibel und suche Trost, Hoffnung, Perspektive, und vielleicht auch eine Antwort auf die Frage: Was ist mit Erwin oder meinetwegen mit Tick-Tack-Oma, jetzt, wo sie tot sind? Ich suche – und finde. Im hinteren Teil des Alten Testaments, im zuletzt hinzugefügten Buch der Hebräischen Bibel, im Buch Daniel. Ganz am Ende lesen wir Visionen, für Menschen geschrieben sind, die an ihre Grenzen kommen. An die Grenzen des Ertragbaren, des Verstehbaren. Um sie herum wütet der Tyrann, sie werden geknechtet, verfolgt, unterdrückt. Sie klagen laut und mit Rech: Es kann doch nicht sein, dass das, was ist, alles gewesen sein soll. Es kann doch nicht sein, dass der Tod und seine weltlichen Handlanger das letzte Wort behalten. Ihnen wird ein Ausblick geschenkt, der über unsere Grenzen hinausführt: 

[Denn] es wird eine Zeit so großer Trübsal sein, wie sie nie gewesen ist, seitdem es Völker gibt, bis zu jener Zeit. Aber zu jener Zeit wird dein Volk errettet werden, alle, die im Buch geschrieben stehen. Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die andern zu ewiger Schmach und Schande. Und die Verständigen werden leuchten wie des Himmels Glanz, und die viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer und ewiglich. 

Wieder ein Buch. Ein Buch, in dem Namen verzeichnet sind. Nicht mit Bleistift – damit schreibt man im Himmel nicht. Gott schreibt auf wetterfestes Papier mit dokumentenechter Tinte, die auch unter Tränen nicht verläuft. Namen, die stehen bleiben. Die Lebensgeschichten in sich bergen im Buch des Lebens, das mit jeder Taufe ein neues Kapitel bekommt. „Ja, den Namen, den wir geben, schreib ins Lebensbuch zum Leben“, singen wir dann. 

Möglich, dass diese Vorstellung nicht lückenlos tröstlich ist, nicht auf den ersten Blick. Möglich, dass unser Gottesbild sich mit dem Bild vom Nikolaus vermischt, der mit weißem Bart und gerunzelter Stirn streng über den Rand seiner Brille guckt, den Zeigefinger in seinem goldenen Buch, das zwei Spalten hat: Sind’s gute Kind, sind’s böse Kind? Der alles aufgeschrieben hat, wirklich alles, und bei dem man nicht weiß, ob er ein Geschenk oder die Rute rausholt. Vielleicht hat Daniel sich das so vorgestellt. Dass Gott doppelte Buchführung macht. Es klingt zumindest so: „Und viele, die im Staub der Erde schlafen, werden aufwachen, die einen zum ewigen Leben, die anderen zu ewiger Schmach und Schande.“ Ich kann diesen Satz nicht einfach weglassen, aber ich möchte versuchen, ihn zu verstehen. Und vorsichtig weiterdenken. Die Worte sind geschrieben in einer Zeit, die gar nicht so anders ist als unsere eigene. Es gibt Menschen, die anderen Leid zufügen. Manchmal bewusst, manchmal unbewusst. Es gibt Verfolgung und Mord, seelische und körperliche Vergewaltigung, häusliche Gewalt und sträfliche Vernachlässigung. Es gibt Opfer und Täter, freiwillig und unfreiwillig. 

Tick-Tack-Oma wusste das. Hat schnell umgeschaltet, wenn im Fernsehen etwas über die unmittelbaren Nachkriegsjahre kam, über das, was damals so gemacht wurde und über das man nicht spricht. Und hat, als die Demenz die Grenzen zwischen Gegenwart und Vergangenheit verwischte, manchmal leise und unzusammenhängend über die jüdische Familie mit dem Geschäft nebenan gesprochen und den Kopf geschüttelt und sich die Hand vors Gesicht gehalten, als wollte sie nicht, dass man sie ansieht. Ich weiß nicht, ob für Tick-Tack-Oma die Vorstellung ertragbar, ob es gerecht wäre, im Buch des Lebens auch die Namen derer zu lesen, die im Krieg oder kurz danach etwas in ihr kaputt gemacht haben. Und dass sie selbst, wenn Soll und Haben aufgerechnet würden, hart an der Grenze wäre. Wie alle anderen. Namen bergen Lebensgeschichte. 

Und so, wie manche ihren eigenen Namen kaum leiden mögen, bergen die Namen auch die Kapitel unserer Lebensgeschichten, die schwer ertragbar sind. Möglich, dass nicht jeder die Vorstellung mag, dass am Ende jeder Name laut aus dem Buch des Lebens vorgelesen wird, inklusive der ganzen peinlichen zweiten und dritten Vornamen nach irgendwelchen Verwandten, die man zu Lebzeiten, wo es nur ging, verschwiegen hat. 

Möglich, dass es selbst im Himmel nicht ohne doppelte Buchführung geht, um der Gerechtigkeit willen. Aber damit ist noch nicht gesagt, dass dort so gerechnet wird, wie wir es gewohnt sind. Kurz gesagt: Weil Christus einen Strich durch die Rechnung macht. Auf der Soll-Seite. Weil Gott die Ewigkeit nicht ohne uns verbringen will und keine Freude hat an Plätzen, die beim großen Festmahl im Himmel leer bleiben. Er hat das Chaos in Welt verwandelt. Er kann auch unseren Namen einen neuen Klang geben. Kann und wird sie neu durchbuchstabieren und unsere Lebensgeschichten so erzählen, dass wir sie neu und anders hören. Wir sind hier an der absoluten Grenze all dessen, was Theologie und Glauben leisten können. Dorthin wagen wir uns am Ewigkeitssonntag. Halb verschüchtert, halb trotzig. Und lassen Gott nicht. Nicht ohne Hoffnung. Gesät werden Menschen in eine Welt voller Erniedrigung, Erhöhte stehen auf. Gesät werden Zerbrechliche, Menschen voller Kraft von Gott stehen auf. Nicht ohne Versprechen: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst. Ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein. 

Irgendwann, wenn dermaleinst die Zeit in Rente gegangen ist, wacht Tick-Tack-Oma auf. Mit einem Mal hell wach, wie man nur mit einem Mal wach ist, wenn man seinen eigenen Namen hört. Und sie steht auf, wundert sich, wie leicht das geht, spürt weder „Knie“ noch „Rücken“, schüttelt sich den Staub aus den Kleidern und fühlt sich überhaupt blendend. Geht langsam in den Flur, hört von irgendwoher leise Musik. Ihr Blick fällt auf ein Telefontischchen, ordentlich, mit Sitzbank, und auf das riesige aufgeschlagene Buch darauf. Namen über Namen, alle feinsäuberlich notiert, mit Tinte, nicht mit Bleistift. „Das ist die Gästeliste“, sagt jemand hinter ihr. Gott ist aus der Küche gekommen und hat die Schürze noch umgebunden und die Ärmel hochgekrempelt. „Gästeliste? Für heute?“ fragt Tick-Tack-Oma, und Gott sagt: „Für ewig.“ Und wieder fällt ihr Blick auf die endlosen Reihen von Namen, manche persönlich bekannt, manche aus Funk und Fernsehen, andere fremd und gänzlich unbekannt. Und ihr eigener natürlich. „Und die kennst du alle?“ fragt sie skeptisch, und Gott strahlt: „Jede und jeden Einzelnen.“ 

Amen.

Eindrücke aus dem Gottesdienst...








Freitag, 24. November 2017

Der berühmte Fragebogen - abschiedliches Leben üben


Vor ein paar Tagen hat die EKiR-Onlineredaktion einen Artikel geschrieben, in dem es, im weitesten Sinne, um Beerdigungsvorsorge und damit auch um Tod, Trauer und abschiedliches Leben generell geht (hier kann man den lesen). Und darum, wie damit individuell und kollektiv umgegangen wird. 

In dem Artikel ist von einem Fragebogen die Rede, die ich manchmal mit Gemeindegruppen ausfülle. "Wie stelle ich mir meine eigene Beerdigung vor?" ist eine Frage, die für Konfis einen anderen Sitz im Leben hat als für den Seniorenkreis, die aber in jedem Fall zu interessanten Gesprächen Anlass bietet. Wer das Ende plant, kommt nicht umhin, über das Davor nachzudenken, zu gewichten und zu entscheiden: Was soll bleiben, was geht mit mir, was hinterlasse ich? Für die juristischen Seiten dieser Frage, mittlerweile auch für die elektronischen, gibt es Daten- und sonstige Testamente. In Schweden bin ich in einem Praktikum auf das Weiße Archiv (vita arkivet gestoßen), ein Portal, wo man sein "spirituelles Testament" hinterlassen kann, so etwas wie ein "Drehbuch für den eigenen Tod" (Deutschlandfunk). Eine alte Dame aus der Gemeinde hatte einen Termin dafür mit meiner Mentorin gemacht, ich saß dabei und fand es mit 22 Jahren so mittelnachvollziehbar. Einerseits fand ich die Idee gut, vorzusorgen. Andererseits fand ich die Vorstellung, so abgeklärt über das eigene Ableben nachzudenken, befremdlich bis erschreckend. Mittlerweile bin ich lange genug an der Lebensgrenze unterwegs gewesen, um aus vollem Herze zu sagen: Das ist gut! Sich über die inhaltliche Seite der Bestattung Gedanken zu machen, kann so etwas wie ein spiritueller Kassensturz sein, weil man sich selbst gegenüber Rechenschaft ablegt darüber, was trägt. Welche Bilder und Texte, welche Lieder und Gedanken. 

Deswegen nutze ich den Fragebogen auf zwei Arten: Einmal, um Menschen, die sich vielleicht alters- oder krankheitsbedingt sehr viel gedanklich mit dem eigenen Tod beschäftigen, aber deren Angehörige solche Gespräche kategorisch verweigern, einen Gesprächsraum zu bieten. Und die Möglichkeit, ihre Wünsche zu formulieren und festzuhalten. Und einmal, um mit Menschen oder Gruppen, die sich damit überhaupt noch nicht befasst haben, das Thema näher ranzuholen. Beides braucht Vertrautheit, Zeit und Raum. Die Tabuisierung des Todes bringt es mit sich, dass es vielleicht eine gewisse Wegstrecke miteinander braucht, um so etwas besprechen zu können. Die Form des Fragebogens, bei der ich in weiten Teilen dem schwedischen Original folge, hat dabei Vor- und Nachteile: Sie zwingt zur Klarheit. Und tut gleichzeitig so, als gäbe es nur die vorgeschlagenen Varianten. Man darf und muss also ein bisschen Freiheit mitbringen, und gleichzeitig das Wissen: Es geht um so viel mehr, als nur um die Beantwortung einiger Fragen. Deswegen, und weil ich hier keine pdfs hochladen kann, kommen hier einfach nur die Fragen, an einigen Stellen mit ein paar weiterführenden Fragen dort, wo erfahrungsgemäßg Gesprächsbedarf besteht. Außerdem sollte in dem Prozess auch klar werden, dass eine Bestattung nicht den Verstorbenen allein gehört, sondern auch eine seelsorgliche Funktion für die Angehörigen hat. Das ist vor allem dann wichtig, wenn jemand so einen Fragebogen ausgefüllt und Wünsche angemeldet hat, die die Angehörigen nicht erfüllen können oder wollen. Hier sind wir, auch, weil so ein "spirituelles Testament" keine juristische Bedeutung hat, als Pfarrerinnen und Pfarrer freier als die Bestattungsunternehmen - und haben auch die Aufgabe, die Fragen und/oder Schwierigkeiten, die wir mit bestimmten Wünschen sehen, offen anzusprechen. Deswegen sind manche Fragen so formuliert, wie sie nicht im Fragebogen stehen würden, aber Hintergründiges sichtbar machen und damit als Gesprächseinstiege dienen können.

Im Folgenden habe ich meine Wünsche für meine Bestattung aufgeschrieben. Sie sollen meinen Angehörigen und dem Pfarrer/der Pfarrerin eine Orientierung bieten und Hilfe sein, um Entscheidunge in meinem Sinne zu treffen. In den Fällen, in denen ich nichts notiert habe, sollen meine Angehörigen entscheiden, was sie für angemessen und hilfreich halten.

1. Wer soll meine Beerdigung organisieren? Wem vertraue ich meinen letzten Weg an?
2. Was will ich im Sarg tragen? Mein Lieblingskleid, einen bequemen Jogginganzug, ...?
3. Wie soll mein Sarg/meine Urne aussehen?
4. Sollen die, die das wollen, sich irgendwann am offenen Sarg verabschieden können? Warum/Warum nicht?
5. Welche Bestattungsform wünsche ich mir? Und warum? Was verbinde ich mit bestimmten Formen?
6. Wo will ich begraben werden?
7. Wer soll die Trauerfeier gestalten? Was an dieser Person macht sie für mich vertrauenswürdig?
8. Wer soll alles zur Trauerfeier eingeladen werden? Wen könnte meine Familie übersehen?
9. Habe ich bestimmte Vorstellungen über die Gestaltung meines Grabsteins? Will ich damit irgendetwas ausdrücken?
10. Welche Lieder sollen gesungen oder abgespielt werden? Was daran berührt mich?
11. Welche Bibelverse/Gedichte/Gedanken... sind mir besonders wichtig? Was bedeuten sie für mich?
12. Was ist mir sonst rund um meine eigene Trauerfeier wichtig? 
13. Was für Ideen habe ich für die Feier hinterher? Gibt es ein Restaurant, dass ich empfehlen kann?
14. Gibt es Anliegen oder Initiativen, die mir am Herzen liegen, und für die anlässlich meines Todes gespendet oder bei der Trauerfeier gesammelt werden könnte? 
15. Was soll die Trauerfeier für meine Angehörigen bedeuten, was wünsche ich mir für sie?
16. Welche positiven oder negativen Beerdigungserfahrungen habe ich gemacht? Gibt es "Dos" und "Donts"?
17. Was ist offen geblieben? 

Ich freue mich über Rückmeldungen und Erfahrungsberichte zum Fragebogen! Und würde mir wünschen, dass das nur ein Anfang einer Entwicklung ist, in der die Kirche die ars moriendi wiederentdeckt. War das Thema "Tod und Sterben" über mehrere Jahrzehnte gesamtgesellschaftlich irgendwo in eine Ecke abgeschoben, scheint sich momentan, mit einer Pluralisierung von Bestattungs- und Trauerkulturen und einer zunehmenden Medialisierung (und Digitalisierung) aller Lebensbereiche eine Trendwende abzuzeichnen. Wir haben in unserer Tradition unglaubliche Schätze, die abschiedliches Leben lehren, ohne den Tod zu beschönigen. Wir sitzen auf Jahrhunderten, teils Jahrtausenden von Erfahrungen mit der Gestaltung und Begleitung der letzten Wege, mit dem Versprachlichen von dem, was eigentlich unsagbar ist, wir haben Symbole und Riten, die vielleicht abgestaubt und behutsam aktualisiert werden müssen, die aber zukunftsfähig in jedem nur erdenklichen Sinne sein können. Und wir haben den Glauben auf den Sieg über den Tod und die Hoffnung auf das Kommen Gottes - das prädestiniert uns doch geradezu, hier zu Pionier_innen einer neuen Trauerkultur zu werden, die das gesamte Leben positiv und heilsam beeinflussen kann.


Sonntag, 5. November 2017

Paradoxe Interventionen. | Mt 5,38-42

Eigentlich bin ich ganz anders – ich komme nur so selten dazu. Sagt Ödön von Horváth. Sagt auch Udo Lindenberg. Könnte ich ganz oft sagen, und Ihr und Sie vielleicht auch. Ich lebe ein Leben mit viel Würde. Und viel Könnte und Sollte und Müsste und Wollte. Eigentlich wollte ich heute die Welt retten… aber es soll ja regnen! Und eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu. 

Die gute Nachricht: Jetzt ist die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann? Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils, schreibt Paulus. Es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine bedeutsame Stunde – die Gegenwart. Schreibt Dietrich Bonhoeffer. Jetzt ist die Gelegenheit, sagt Jesus: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Und Jesus malt in der Bergpredigt Bilder davon, wie es sein könnte, wenn alles anders werden sollte könnte würde, wie es sein muss, damit es anders wird. Und das sind Bilder, die auf den ersten Blick verstoren – ich weiß nicht, wie Sie die Lesung gerade gehört haben? 

Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Gewand zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer nötigt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei. 

Wir sind im Laufe unserer Geschichte sehr unterschiedlich mit diesem Text umgegangen. Da gab es den, der gesagt hat: Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen. Da gab es die, die gesagt haben: Richtig so, Christinnen und Christen haben sich aus militärischen Aktionen rauszuhalten und keine Waffen anzufassen. Die waren kaum überraschend so lange in der Mehrheit, wie das Christentum in Rom noch nicht Staatsreligion war und Christen sowieso keinen Militärdienst geleistet haben. Da gibt es die, die genau hingucken (und die mit rechts und links mehr anfangen können als ich), die sagen: Moment – stellt euch das mal bildlich vor (liebe Kinder zuhause, bitte nicht nachmachen): Es geht hier um die rechte Backe. Ein Rechtshänder, und das waren auch in der Antike die Mehrheit, schlägt aber nicht auf die rechte, sondern auf die linke Backe. Ein Schlag auf die rechte Backe wird mit dem Handrücken ausgeführt und ist also nicht eine Ohrfeige im eigentlichen Sinne, sondern ein Schlag ins Gesicht, der Verachtung ausdrückt, der eher als Beleidigung gedacht ist. Was Jesus also eigentlich meint, ist, dass wir drüber stehen sollen, wenn uns jemand beleidigt oder mit Verachtung straft. 
Ich finde das klug und bedenkenswert, aber ich finde auch verbale Schläge manchmal schmerzhaft genug. Und ich möchte versuchen, Jesus zu verstehen ohne „eigentlich“, auf dass ja bekanntlich immer ein „aber“ folgt, das wiederum bekanntlich immer alles verneint, was vorher gesagt wurde. 

II. Jemand schlägt dich – und du forderst ihn quasi auf, das nochmal zu tun. Jemand will vor Gericht von einem Armen das Untergewand pfänden lassen – und der gibt ihm direkt noch den viel wertvolleren und vor allem wärmeren Mantel dazu. Und jemand zwingt einen anderen, eine Meile mit ihm zu gehen. Das konnten im römischen Reich zum Beispiel Beamte oder Militärs sein, die von der Zivilbevölkerung Weggeleit oder Proviant einfordern konnten. Und dieser andere sagt: Super, klar komme ich mit, aber warum nur eine Meile, wenn wir schon dabei sind – ich gehe gleich zwei mit. Das sind, bei Licht betrachtet, alles ziemlich verrückte Ideen. Und ich glaube, sie sind genauso gemeint. 


In der Psychotherapie, auch in der Seelsorge, gibt es die sogenannte paradoxe Intervention. Das sind Maßnahmen, die scheinbar genau das Gegenteil von dem verursachen, was man eigentlich erreichen will, aber dann genau dahin führen. Vielleicht ist Ihnen das schon einmal in Erziehungsratgebern begegnet: Wenn Ihr Kind sich partout weigert, den Broccoli zu essen und nur Nudeln will, dann machen Sie die klare Ansage: Du bekommst erst wieder Broccoli, wenn du alle deine Nudeln aufgegessen hast! Und staunen Sie, was sie für ein broccoligieriges Kind zuhause haben! 
Paradoxe Interventionen überraschen das Gegenüber, bringen es aus dem Konzept und sollen den Trotzkopf in uns wecken, der immer das Gegenteil von dem tun will, was andere von ihm verlangen. Vielleicht schlägt Jesus auch hier paradoxe Interventionen vor – Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben ihn so verstanden und damit großen Erfolg gehabt. Ich glaube aber, dass es Jesus nicht um psychologische Taschenspielertricks geht. Ich glaube, es geht ums Prinzip. 

Paradoxe Intervention – das könnte fast sowas wie Gottes Handschrift in der Lebensgeschichte Jesu sein. Das fängt ganz am Anfang an: Das Volk erwartet den Messias. Wunderrat, Ewig-Vater, Friede-Fürst – und Gottes Sohn kommt als kleines Kind in einem Stall abseits der Weltgeschichte zur Welt. Als es erwachsen geworden ist, geht ebendieses Kind auf verhasste Outsider zu und sagt: Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein. Wenn er über den Himmel befragt wird, erzählt er von der Erde und vom Ackerbau. Und am Ende seines Lebens lässt sich Jesus verhaften, auspeitschen und umbringen – und verhilft gerade dadurch dem Leben zum Sieg. 

So verstehe ich diese Sätze aus der Bergpredigt. Als paradoxe Interventionen. Als Ratschläge, die völlig abseits von dem stehen, was wir sinnvoll, zielführend oder rechnerisch richtig finden würden. Es ist Ihnen ja vielleicht aufgefallen, dass wir diese Woche das Reformationsjubiläum gefeiert haben. Vor 500 Jahren hat Luther genau das gemacht, als er ein funktionierendes System angegriffen hat. Und der Ablasshandel war ein funktionierendes System – und aus psychologischer Sicht sogar eigentlich sehr sinnvoll: Wenn ich mein Seelenheil erkaufen kann, dann gibt mir das das gute Gefühl, dass ich mein Leben selbst in der Hand habe. Und warum sollte Gott anders funktionieren als der Rest der Welt? Was nichts kostet, ist nichts, jeder ist seines Glückes Schmied, und umsonst ist nur der Tod. Und Luther sagt: Lasst das Geld in der Tasche. Lasst das Schachern und das Feilschen und das Vorsorgen. Gottes Gnade wird in einer tränentreibenden Verschwendung ausgegossen, im Himmel gibt es keine doppelte Buchführung. Darum: Sündige tapfer! Hat Luther auch gesagt. Und: Ich bin frei in allen Dingen – und Jedermanns Knecht. Und in seiner Folge Nikolaus Herrmann: Gott wird der Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein! Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Und Christoph Lichtenberg sagt: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders ist. Ich weiß aber, dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll. 

III. In den paradoxen Interventionen öffnen sich Räume. Wenn dich einer nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei. Geh mit ihm drei Kilometer statt anderthalb. Und guck zu, wie die Strecke sich ändert. Wie sich auf der zweiten Meile auf einmal ein Weg eröffnet, den keiner von euch geplant hat. Ihr müsst euch über das Ziel verständigen. Geht nebeneinander her, vielleicht schweigend. Ab dem dritten Kilometer ungefähr passen sich eure Schrittlängen einander an. Die Grenzen verschwimmen zwischen dem, der vorangeht und dem, der nachläuft. Vielleicht durchbricht irgendwann jemand das Schweigen, und Ihr kommt ins Gespräch. Vielleicht reicht auch einfach nur einer dem anderen den Schlauch mit dem Wasser, ist plötzlich eine Hand da, wenn einer stolpert, vielleicht braucht es weder Worte noch Gesten, weil miteinander gehen auch ohne das alles etwas mit Menschen machen kann. Interventionen eröffnen Räume, wo es anders wird. 

IV. Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen, hat Helmut Schmidt gesagt. Oder Karl Carstens. Oder wer auch immer. Und eigentlich haben sie Recht. Eigentlich. Aber ich glaube nicht, dass Jesus seine Beispiele hier als TO-DO-Liste gemeint hat, die man abhaken kann, um sich als besonders guter Christ zu fühlen. Ich glaube, dass manche Sätze für manche Leute gar nicht gedacht sind – es gibt Menschen, die beigebracht bekommen haben, Schläge einzustecken. Alles runterschlucken, nur nicht aufmucken, sich bespucken lassen, niemand in die Augen gucken. Vielleicht geht es einigen von Ihnen so. Und wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass Sie mit dem Satz mit der rechten und der linken Backe gemeint sind. Die Berpredigt ist keine Anleitung zum Unglücklichsein, keine Liste zum Abhaken, sondern eine Einladung zum Weiterspinnen und zum Sehen, wie Gottes Reich die offenen Räume zu füllen beginnt. 

Wenn alle über einen lästern, sag was Nettes über ihn. 
Wenn dir jemand einen Vorwurf macht, gesteh ihm noch zwei-drei weitere Unzulänglichkeiten deinerseits. 
Wenn jemand ein Kompliment braucht, gib ihm zwei. Und ein Stück Schokolade. 
Wenn jemand dein Geld will, gib ihm das Handy gleich mit. 
Wenn dich jemand zwingt, ihm eine Stunde zuzuhören, schenke ihm auch eine zweite. 
Wenn Du kein Geld hast, lade jemanden zum Essen ein. 
Wenn Du jemanden auf den Tod nicht leiden kannst, dann bete für ihn. 

Nur Sie wissen, wie es weitergeht. 

Amen.