Sonntag, 5. November 2017

Paradoxe Interventionen. | Mt 5,38-42

Eigentlich bin ich ganz anders – ich komme nur so selten dazu. Sagt Ödön von Horváth. Sagt auch Udo Lindenberg. Könnte ich ganz oft sagen, und Ihr und Sie vielleicht auch. Ich lebe ein Leben mit viel Würde. Und viel Könnte und Sollte und Müsste und Wollte. Eigentlich wollte ich heute die Welt retten… aber es soll ja regnen! Und eigentlich bin ich ganz anders. Ich komme nur so selten dazu. 

Die gute Nachricht: Jetzt ist die Gelegenheit. Wenn nicht jetzt, wann dann? Siehe, jetzt ist die Zeit des Heils, schreibt Paulus. Es gibt in der ganzen Weltgeschichte immer nur eine bedeutsame Stunde – die Gegenwart. Schreibt Dietrich Bonhoeffer. Jetzt ist die Gelegenheit, sagt Jesus: Das Reich Gottes ist mitten unter euch. Und Jesus malt in der Bergpredigt Bilder davon, wie es sein könnte, wenn alles anders werden sollte könnte würde, wie es sein muss, damit es anders wird. Und das sind Bilder, die auf den ersten Blick verstoren – ich weiß nicht, wie Sie die Lesung gerade gehört haben? 

Wenn dich einer auf die rechte Backe schlägt, dann halte ihm auch die andere hin. Und wenn dich einer vor Gericht ziehen will, um dein Gewand zu nehmen, dann lass ihm auch den Mantel. Und wenn dich einer nötigt, eine Meile mitzugehen, dann geh mit ihm zwei. 

Wir sind im Laufe unserer Geschichte sehr unterschiedlich mit diesem Text umgegangen. Da gab es den, der gesagt hat: Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen. Da gab es die, die gesagt haben: Richtig so, Christinnen und Christen haben sich aus militärischen Aktionen rauszuhalten und keine Waffen anzufassen. Die waren kaum überraschend so lange in der Mehrheit, wie das Christentum in Rom noch nicht Staatsreligion war und Christen sowieso keinen Militärdienst geleistet haben. Da gibt es die, die genau hingucken (und die mit rechts und links mehr anfangen können als ich), die sagen: Moment – stellt euch das mal bildlich vor (liebe Kinder zuhause, bitte nicht nachmachen): Es geht hier um die rechte Backe. Ein Rechtshänder, und das waren auch in der Antike die Mehrheit, schlägt aber nicht auf die rechte, sondern auf die linke Backe. Ein Schlag auf die rechte Backe wird mit dem Handrücken ausgeführt und ist also nicht eine Ohrfeige im eigentlichen Sinne, sondern ein Schlag ins Gesicht, der Verachtung ausdrückt, der eher als Beleidigung gedacht ist. Was Jesus also eigentlich meint, ist, dass wir drüber stehen sollen, wenn uns jemand beleidigt oder mit Verachtung straft. 
Ich finde das klug und bedenkenswert, aber ich finde auch verbale Schläge manchmal schmerzhaft genug. Und ich möchte versuchen, Jesus zu verstehen ohne „eigentlich“, auf dass ja bekanntlich immer ein „aber“ folgt, das wiederum bekanntlich immer alles verneint, was vorher gesagt wurde. 

II. Jemand schlägt dich – und du forderst ihn quasi auf, das nochmal zu tun. Jemand will vor Gericht von einem Armen das Untergewand pfänden lassen – und der gibt ihm direkt noch den viel wertvolleren und vor allem wärmeren Mantel dazu. Und jemand zwingt einen anderen, eine Meile mit ihm zu gehen. Das konnten im römischen Reich zum Beispiel Beamte oder Militärs sein, die von der Zivilbevölkerung Weggeleit oder Proviant einfordern konnten. Und dieser andere sagt: Super, klar komme ich mit, aber warum nur eine Meile, wenn wir schon dabei sind – ich gehe gleich zwei mit. Das sind, bei Licht betrachtet, alles ziemlich verrückte Ideen. Und ich glaube, sie sind genauso gemeint. 


In der Psychotherapie, auch in der Seelsorge, gibt es die sogenannte paradoxe Intervention. Das sind Maßnahmen, die scheinbar genau das Gegenteil von dem verursachen, was man eigentlich erreichen will, aber dann genau dahin führen. Vielleicht ist Ihnen das schon einmal in Erziehungsratgebern begegnet: Wenn Ihr Kind sich partout weigert, den Broccoli zu essen und nur Nudeln will, dann machen Sie die klare Ansage: Du bekommst erst wieder Broccoli, wenn du alle deine Nudeln aufgegessen hast! Und staunen Sie, was sie für ein broccoligieriges Kind zuhause haben! 
Paradoxe Interventionen überraschen das Gegenüber, bringen es aus dem Konzept und sollen den Trotzkopf in uns wecken, der immer das Gegenteil von dem tun will, was andere von ihm verlangen. Vielleicht schlägt Jesus auch hier paradoxe Interventionen vor – Mahatma Gandhi und Martin Luther King haben ihn so verstanden und damit großen Erfolg gehabt. Ich glaube aber, dass es Jesus nicht um psychologische Taschenspielertricks geht. Ich glaube, es geht ums Prinzip. 

Paradoxe Intervention – das könnte fast sowas wie Gottes Handschrift in der Lebensgeschichte Jesu sein. Das fängt ganz am Anfang an: Das Volk erwartet den Messias. Wunderrat, Ewig-Vater, Friede-Fürst – und Gottes Sohn kommt als kleines Kind in einem Stall abseits der Weltgeschichte zur Welt. Als es erwachsen geworden ist, geht ebendieses Kind auf verhasste Outsider zu und sagt: Heute muss ich in deinem Haus zu Gast sein. Wenn er über den Himmel befragt wird, erzählt er von der Erde und vom Ackerbau. Und am Ende seines Lebens lässt sich Jesus verhaften, auspeitschen und umbringen – und verhilft gerade dadurch dem Leben zum Sieg. 

So verstehe ich diese Sätze aus der Bergpredigt. Als paradoxe Interventionen. Als Ratschläge, die völlig abseits von dem stehen, was wir sinnvoll, zielführend oder rechnerisch richtig finden würden. Es ist Ihnen ja vielleicht aufgefallen, dass wir diese Woche das Reformationsjubiläum gefeiert haben. Vor 500 Jahren hat Luther genau das gemacht, als er ein funktionierendes System angegriffen hat. Und der Ablasshandel war ein funktionierendes System – und aus psychologischer Sicht sogar eigentlich sehr sinnvoll: Wenn ich mein Seelenheil erkaufen kann, dann gibt mir das das gute Gefühl, dass ich mein Leben selbst in der Hand habe. Und warum sollte Gott anders funktionieren als der Rest der Welt? Was nichts kostet, ist nichts, jeder ist seines Glückes Schmied, und umsonst ist nur der Tod. Und Luther sagt: Lasst das Geld in der Tasche. Lasst das Schachern und das Feilschen und das Vorsorgen. Gottes Gnade wird in einer tränentreibenden Verschwendung ausgegossen, im Himmel gibt es keine doppelte Buchführung. Darum: Sündige tapfer! Hat Luther auch gesagt. Und: Ich bin frei in allen Dingen – und Jedermanns Knecht. Und in seiner Folge Nikolaus Herrmann: Gott wird der Knecht und ich ein Herr, das mag ein Wechsel sein! Eigentlich bin ich ganz anders, aber ich komme so selten dazu. Jetzt ist die Zeit der Gnade. Und Christoph Lichtenberg sagt: Ich weiß nicht, ob es besser wird, wenn es anders ist. Ich weiß aber, dass es anders werden muss, wenn es besser werden soll. 

III. In den paradoxen Interventionen öffnen sich Räume. Wenn dich einer nötigt, eine Meile mit ihm zu gehen, dann geh mit ihm zwei. Geh mit ihm drei Kilometer statt anderthalb. Und guck zu, wie die Strecke sich ändert. Wie sich auf der zweiten Meile auf einmal ein Weg eröffnet, den keiner von euch geplant hat. Ihr müsst euch über das Ziel verständigen. Geht nebeneinander her, vielleicht schweigend. Ab dem dritten Kilometer ungefähr passen sich eure Schrittlängen einander an. Die Grenzen verschwimmen zwischen dem, der vorangeht und dem, der nachläuft. Vielleicht durchbricht irgendwann jemand das Schweigen, und Ihr kommt ins Gespräch. Vielleicht reicht auch einfach nur einer dem anderen den Schlauch mit dem Wasser, ist plötzlich eine Hand da, wenn einer stolpert, vielleicht braucht es weder Worte noch Gesten, weil miteinander gehen auch ohne das alles etwas mit Menschen machen kann. Interventionen eröffnen Räume, wo es anders wird. 

IV. Mit der Bergpredigt lässt sich keine Politik machen, hat Helmut Schmidt gesagt. Oder Karl Carstens. Oder wer auch immer. Und eigentlich haben sie Recht. Eigentlich. Aber ich glaube nicht, dass Jesus seine Beispiele hier als TO-DO-Liste gemeint hat, die man abhaken kann, um sich als besonders guter Christ zu fühlen. Ich glaube, dass manche Sätze für manche Leute gar nicht gedacht sind – es gibt Menschen, die beigebracht bekommen haben, Schläge einzustecken. Alles runterschlucken, nur nicht aufmucken, sich bespucken lassen, niemand in die Augen gucken. Vielleicht geht es einigen von Ihnen so. Und wissen Sie was? Ich glaube nicht, dass Sie mit dem Satz mit der rechten und der linken Backe gemeint sind. Die Berpredigt ist keine Anleitung zum Unglücklichsein, keine Liste zum Abhaken, sondern eine Einladung zum Weiterspinnen und zum Sehen, wie Gottes Reich die offenen Räume zu füllen beginnt. 

Wenn alle über einen lästern, sag was Nettes über ihn. 
Wenn dir jemand einen Vorwurf macht, gesteh ihm noch zwei-drei weitere Unzulänglichkeiten deinerseits. 
Wenn jemand ein Kompliment braucht, gib ihm zwei. Und ein Stück Schokolade. 
Wenn jemand dein Geld will, gib ihm das Handy gleich mit. 
Wenn dich jemand zwingt, ihm eine Stunde zuzuhören, schenke ihm auch eine zweite. 
Wenn Du kein Geld hast, lade jemanden zum Essen ein. 
Wenn Du jemanden auf den Tod nicht leiden kannst, dann bete für ihn. 

Nur Sie wissen, wie es weitergeht. 

Amen.

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