Dienstag, 26. Dezember 2017

Du kleine Stadt... | Predigt in der Christvesper über Mi 5

I. COMING HOME FOR CHRISTMAS 


Kurz vor Weihnachten: Autobahnen zu und Züge überfüllt.
Weihnachten geht es nach Hause.
Söhne und Töchter, die irgendwo in der weiten Welt studieren,
packen ihre Sachen zusammen und fahren ins Elternhaus.
Manche freuen sich darauf.
Auf vertraute Gerüche, 
auf das Lieblingsessen von früher, 
auf das Wiedersehen mit Freunden 
an diesem alljährlich felsenfest stehenden Kneipenabend. 
Andere freuen sich, wenn der Heimaturlaub wieder vorbei ist. 
Sind rausgewachsen. 
Aus dem Bett in ihrem ehemaligen Zimmer, 
aus den Tagesabläufen der Eltern, 
aus den Diskussionen, ob es denn – Vegetarier hin oder her – 
zu Weihnachten nicht doch ein Stückchen Gans sein darf. 



Kurz vor der ersten Weihnacht waren die Straßen auch zu und die Herbergen überfüllt. 
Vor der ersten Weihnacht ging es nach Hause. 
Aus anderen Gründen damals als heute 
- Es begab sich aber zu der Zeit, 
dass ein Gebot von dem Kaiser Augustus ausging, 
dass alle Welt geschätzt würde. 
Und jeder ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeglicher in seine Stadt. - 
aber vielleicht mit ganz ähnlichen Gedanken und Gefühlen. 

Für viele, die heute hier sind, heißt Weihnachten: Zurück nach Wuppertal. 
Für Maria und Josef hieß es: Zurück nach Bethlehem. 

 II. DU KLEINE STADT… 


O Bethlehem, du kleine Stadt, Dorf neben anderen Dörfern, im Bergland am Rande der Wüste. Ein paar Häuser, eine kleinere Synagoge, überall Zisternen, weil die Stadt noch nicht an die antike Wasserversorgung angeschlossen ist. Die Menschen in Bethlehem leben vom Ackerbau und von ihren Olivenbäumen, aber nicht von dem kleinen Goldrand der Stadtgeschichte: Aus Bethlehem stammt immerhin der legendäre König David. Aber das ist lange her. 

O Wuppertal, du kleine Stadt. Stadt neben anderen Städten, im Bergischen zwischen Rheinland und Westfalen. Es gibt, immerhin, eine Universität, ein Opern- und Schauspielhaus, die Schwebebahn, einen Bahnhof, der gerade aufgehübscht wird, und viele Staus, wenn die Stadt durch Baumaßnahmen auf der B7 oder der A46 wieder einmal so gut wie abgeschnitten ist. Die Menschen leben in Wuppertal leben gut oder schlecht von ihrer Arbeit, von Sozialhilfe oder von Luft und Liebe, aber nicht von den kleinen Goldrändern der Stadtgeschichte: Immerhin war hier eine der ersten Industrieregionen Deutschlands, immerhin gab es immer wieder Prominenz von Friedrich Engels über Johannes Rau bis Pina Bausch, immerhin wurde hier die Barmer Theologische Erklärung verfasst. Aber das ist lange her. 



 III. GOTT FÄNGT KLEIN AN – UND MACHT’S WIE IMMER 


Von Bethlehem hat damals niemand Großes erwartet. Von David auch nicht. Als jüngster von acht Söhnen bleibt ihm das Schafehüten, alle interessanten Tätigkeiten von den älteren, stärkeren Brüdern schon weggeschnappt, so wie wahrscheinlich auch die potenziellen Heiratskandidatinnen. Und trotzdem fällt die Wahl zum König nicht auf die ungleich hochglanzmagazingeeigneteren Brüder, sondern auf David. Die damals noch viel kleinere Stadt Bethlehem erlebt ihr Aschenputtelmärchen, bei dem Gott nicht zum ersten Mal zeigt, wie er so tickt: Der Mensch sieht, was vor Augen ist – Gott aber sieht das Herz an. Und unter diesem Blick Gottes wird das Kleine groß, das Unbedeutende wichtig, und das Vernachlässigte rückt vor in die erste Reihe. Die Letzten werden die ersten sein. Der Jüngste wird König und dereinst einen Riesen mit einer Steinschleuder besiegen. 

An Weihnachten kehrt Gott auch zurück. Nach Bethlehem, und zu sich selbst. Fängt klein an, ganz klein, unscheinbar und verletzlich. Und legt in diesem bescheidenen Anfang der Welt eine neue Zukunft in die Wiege. Vertraut diesen Anfang einer jungen Frau an, die vom Leben noch nicht viel gesehen hat, und einem jungen Mann, der am Liebsten das Weite suchen würde. Lässt sich bestaunen von Hirten mit speckiger Kleidung, schlechtem Ruf und grober Sprache. 
Und so sitzen heute hinter den Wuppertaler Fenstern junge Frauen und Männer in zerbrechlichen Beziehungen, gehen auf Wuppertaler Straßen Menschen, denen man nicht im Dunkeln begegnen will, und wissen vielleicht selbst nicht: Auch sie können es sein. Zeugen von Gottes Wundern und Träger seines Friedens und Geburtshelfer der Weihnachtsbotschaft. 

 IV. JERUSALEM UND BERLIN 


Der Erste, dem so ein Bild vorschwebte, war der Prophet Micha. Einer, den Gott in seine Richtung blicken ließ. In einer Zeit, in der große Teile seines Volkes im Exil waren, träumte er davon, dass sie nach Hause zurückkehren. Dass das Kriegführen verlernt und Waffen zu Werkzeugen umgeschmiedet würden. Dass Friede sei. Und dass dieser Friede von Bethlehem ausgehen würde. Weil er von der Hauptstadt Jerusalem nichts mehr erwartete, von ihren korrupten Beamten, ihrer schwerfälligen Politik und ihrem ausgebluteten Königshaus. So, wie heute in Wuppertal und anderswo Menschen von der Tagespolitik in Berlin oder Düsseldorf nichts mehr erwarten und sich entweder zurückziehen oder denen ihre Stimme geben, die am Lautesten schreien. Aber Micha war, bei aller beißenden Kritik an den Machthabenden, kein Wutbürger. Weil er ahnte: Wirklicher, dauerhafter Frieden wird nicht dadurch kommen, dass die Einen sich gegen die Anderen durchsetzen. Nicht dadurch, dass man ihn absichert und umzäunt. Der Friede von Bethlehem wird gewagt, gesucht – und empfangen. 

V. FRIEDE GABST DU SCHON, FRIEDEN MUSS NOCH WERDEN 


Wenn man heute in Bethlehem unterwegs ist, könnte man meinen: Das hat nicht geklappt. Die Stadt liegt mitten in einer der umstrittensten Gegenden der Welt. Vom restlichen Westjordanland ist sie durch eine Sperrmauer abgetrennt. Die Heiligen Drei Könige hätten heute gehörige Schwierigkeiten, mit ihren Geschenken zum Christkind vorzudringen, wahrscheinlich müssten sie stundenlang bei einem Checkpoint ausharren und ihre Pakete auf Sprengstoff untersuchen lassen. 

Wenn man heute in Wuppertal unterwegs ist, könnte man auch meinen: Das hat nicht geklappt. Wenn die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander klafft, wenn kleine Säuglinge im Wald vergraben werden, wenn die Stadt den traurigen Rekord von 39 so genannten Angstorten hält. Und trotzdem. 

Trotzdem will ich daran glauben, dass Weihnachten etwas geändert hat und ändern wird und ändert. Auch in diesem Jahr. In Bethlehem. In Wuppertal und anderswo. Und dass der Blick zurück zur Krippe etwas verändert. 

Da stehen wir. 
Gucken zurück, auf die Krippe. 
Gucken verstohlen zur Seite, 
finden uns wieder neben Menschen, 
um wir vielleicht lieber einen großen Bogen machen würden. 
Und teilen doch das Wunder miteinander. 

Hier sitzen wir. 
Geben gleich das Friedenslicht weiter, 
Kerze für Kerze für Kerze. 
Reihen uns ein in eine Kette, 
die von der Geburtskirche in Bethlehem 
bis auf den Uellendahl reicht. 
Und die hier nicht zu Ende sein muss. 
So wie in rund zwanzig anderen Kirchen in der Stadt 
und drum herum. 
Gehen nach Hause – und mit jedem Menschen, 
dem Sie in den nächsten Tagen begegnen, 
haben Sie vielleicht, 
ohne es zu wissen, 
das Licht geteilt. 

Und für jeden Menschen, 
dem Sie in den nächsten Tagen begegnen, 
hat Gott ganz sicher in Bethlehem einen neuen Anfang gesetzt. 
Für den Penner am Döppersberg, 
für die junge Mutter auf der Gathe, 
für den alten Nachbarn am Weinberg. 
Und sogar und ganz sicher für den Menschen, 
der Ihnen aus dem Spiegel entgegenguckt. 

 VI. COMING HOME FOR CHRISTMAS II 


Weihnachten geht es nach Hause. 
Und wir kehren zurück. 
Zu den neuen Anfängen Gottes, 
der sich klein macht und unsere Anfänge heiligt. 
Auch die ganz kleinen, 
von denen niemand etwas erwartet. 
Auch im Heimaturlaub, 
ob er nun mit freudigem Herzklopfen 
oder mit Magenschmerzen absolviert wird. 
Wer unbequem im Bett im alten Kinderzimmer liegt, 
erinnere sich daran, dass man selbst in einer Krippe schlafen kann, 
wenn es sein muss. 

Wer nicht mehr hören kann, 
dass die Schwester schon zwei Kinder, 
der Cousin einen Job 
und der Nachbarsjunge eine eigene Praxis hat, 
denke an David und daran, 
dass die Letzten die Ersten sein werden. 

Und wer keinen Gänsebraten will, 
der isst keinen. 

Und plötzlich ist Weihnachten. 
O je. 
O ja. 
O nein. 
O doch.
Okay. 
O Gott. 
O du fröhliche. 
O Heiland, reiß die Himmel auf. 
Über Bethlehem, der kleinen Stadt. 
Und über Wuppertal. 
Und über uns. 
Und überhaupt 
und überall 
und über allem 
und allen: 
Friede auf Erden. 
Amen.

Dienstag, 5. Dezember 2017

Weinende Visionäre und großes Kino | Predigt über Offb 5 und BWV 62

Aus dem Kantatengottesdienst in der Kölner Antoniterkirche.
 

GROSSES KINO 

 

Lehnen Sie sich zurück. Greifen Sie in Gedanken in die Tüte mit Popcorn, trinken Sie einen Schluck, was auch immer, denn: Sie erwartet großes Kino. Großes Ohrenkino gleich nach der Predigt mit der Bachkantate, und vorher schon großes Kino für Auge und Herz, ein bisschen auch für den Kopf, mit einem Text aus der Bibel, der es in sich hat. Bei dem es ums Ganze geht. Großes Kino halt, dabei weniger „Drei Haselnüsse für Aschenbrödel“, eher „Armageddon“, auch nicht „der kleine Lord“. Am Anfang des Kirchenjahres blättern wir zum Ende der Bibel, schlagen die Offenbarung des Johannes auf. Ein Buch voller Rätsel, voller Bilder, voller Ausrufe- und mindestens so vielen Fragezeichen. Wir gucken dem Seher Johannes über die Schulter. Er bekommt das, was viele Menschen sich wünschen, worauf sie hoffen, wonach sie lautstark verlangen, wenn die Gegenwart zu schwer zu ertragen ist. Johannes bekommt Einblick in die Zukunft. Nicht in die nächste Woche, nicht auf den Rest seines eigenen Lebens, sondern in die Zukunft, die Gott für diese Welt vorgesehen hat. Großes Kino eben, keine Kaffeesatzleserei. Wir treten neben Johannes, als er in Gedanken im Thronsaal steht.  

Und ich sah in der rechten Hand dessen, der auf dem Thron saß, ein Buch, beschrieben innen und außen, versiegelt mit sieben Siegeln. Und ich sah einen starken Engel, der rief mit großer Stimme: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? 


ZEIT DER GEHEIMNISSE – IST DA JEMAND? 

 

Advent ist die Zeit der Geheimnisse. Ein Kalender mit vierundzwanzig Türchen, jedes mit einem kleinen Geheimnis dahinter. Ein kurzer Blick auf verheißungsvoll raschelnde Pakete, bevor sie bis Heiligabend irgendwo verschwinden und in der Zwischenzeit aufgeregt rätseln lassen, was da wohl drin ist. Immerhin: Am Ende der Adventszeit werden wir es wissen. Die Türchen sind aufgemacht, Geheimnisse gelüftet und Pakete ausgepackt. Im himmlischen Thronsaal scheint die Lage anders zu sein. Da ist das Buch, eine kunstvoll gefaltete Rolle, von innen und außen beschriftet. Allem Anschein nach eine Urkunde göttlicher Herrschaft, und damit auch ein Dokument voller Wahrheit und Klarheit über die Zukunft der Welt. Nur eben: Versiegelt. Mit nicht nur einem, sondern gleich mit sieben Siegeln, und die mystische Zahlenspielerei macht deutlich: Dieser Code ist nur mit göttlicher Kraft und Autorität zu brechen. 

Einerseits finde ich das gut. Das mahnt zur Vorsicht bei Zukunftsprognosen und Kaffeesatzleserei aller Art. Die Zukunft liegt bei Gott, und da liegt sie gut. 

Und andererseits macht es mich ungeduldig. Mir geht es wie Johannes. Ich will lesen. Und wissen, wie es ausgeht. Nicht einmal im Detail, will nur wissen, dass es gut ausgeht. Wie wenn ich bei einem unerträglich spannenden Krimi verbotenerweise auf die letzten Seiten blättere, um zu sehen, wer am Ende noch alles am Leben ist. Wie Johannes auf der Insel Patmos, der aus dem Exil heraus sieht und hört, wie seine Schwestern und Brüder im Glauben von den Römern verfolgt und getötet werden. Spürt und weiß: Unfrieden herrscht auf der Erde, und ein gutes Ende ist kaum vorstellbar. Unfrieden herrscht auf der Erde, und Ungeduld sogar im Himmel, wenn ein starker Engel die heilige Stille durchbricht und ruft: Wer ist würdig, das Buch aufzutun und seine Siegel zu brechen? Ja, wer? Wer kann die Siegel aufbrechen, wer versteht die Geheimnisse dieser Welt, und wer kann eigentlich dafür sorgen, dass am Ende alles gut wird? Ist da überhaupt jemand? Ist da jemand, der mein Herz versteht? Und der mit mir bis ans Ende geht? Ist da jemand, der noch an mich glaubt? Ist da jemand? Ist da jemand? Der mir den Schatten von der Seele nimmt? Und mich sicher nach Hause bringt? Ist da jemand? Ist da jemand? -- Und niemand, weder im Himmel noch auf Erden noch unter der Erde, konnte das Buch auftun noch es sehen. Und ich weinte sehr, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun und hineinzusehen. 

ES IST ZUM WEINEN 

 

Es ist doch zum Weinen. Dass da niemand ist, der dieses Buch öffnen kann. Dass da niemand ist, der weiß, wie es geht, wie es sein wird. Es ist doch zum Weinen, dass allem Anschein nach das Böse, das Tödliche, das Dumme, das Unfaire, das Lebensverachtende in der Welt den Sieg davonträgt. 
Es ist doch zum Weinen, dass wir bald drei Monate immer noch nicht wissen, wer die Regierung stellen wird, und ein Minister im Alleingang gegen den Willen von Millionen von Bürgern und gegen den Willen der Kanzlerin den Einsatz einer hoch umstrittenen Chemiekeule genehmigt. 
Es ist doch zum Weinen, dass mehr als siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges eine Partei die drittmeisten Stimmen bekommt, die die Zeit zwischen 33 und 45 schönreden und vielleicht sogar in Teilen wiederholen will. 
Es ist doch zum Weinen. 
Auch all das, was es nicht in die Zeitung schafft. Gestern Nachmittag war ich bei der Andacht eines Kollegen mit seiner Konfirmandengruppe dabei. In der kleinen kalten Kapelle auf dem Altar das Bild eines Zwölfjährigen. Lukas. Er war in ihrer Konfigruppe. War. In der Nacht von Sonntag auf Montag ist er gestorben. Einfach so. Morgens nicht mehr aufgewacht. „Ich bin sprachlos“, sagte der Kollege, „ich bin sprachlos, auch, wenn ich gerade rede.“ Und wir haben Kerzen angezündet und geweint. Geweint wie jetzt gerade Menschen weinen, überall in der Welt, aus den verschiedensten Gründen. 


Wie Johannes im himmlischen Thronsaal weint, weil niemand für würdig befunden wurde, das Buch aufzutun. Weint, bis ihm jemand die Hand auf die Schulter legt. 

Und einer von den Ältesten spricht zu mir: Weine nicht! Siehe, es hat überwunden der Löwe aus dem Stamm Juda, die Wurzel Davids, aufzutun das Buch und seine sieben Siegel. Und ich sah mitten zwischen dem Thron und den vier Wesen und mitten unter den Ältesten ein Lamm stehen, wie geschlachtet; […]Und ich sah, und ich hörte eine Stimme vieler Engel um den Thron und um die Wesen und um die Ältesten her, und ihre Zahl war zehntausendmal zehntausend und vieltausendmal tausend; die sprachen mit großer Stimme: Das Lamm, das geschlachtet ist, ist würdig, zu nehmen Kraft und Reichtum und Weisheit und Stärke und Ehre und Preis und Lob. 

GROSSES KINO, EIN UNERWARTETER HAUPTDARSTELLER – VARIATIONEN EINES THEMAS 

 

Mitten im Thronsaal ist der schon da, der die Siegel brechen und die Zukunft in die Hand nehmen kann. Ist schon da, aber kommt erst jetzt in den Blick. Drängt sich nicht vor, ruft nicht laut „hier“, aber lässt sich finden. Wie am Anfang, der kleine Lord in der Krippe auf Stroh, wie am vermeintlichen Ende am Kreuz, wie beim Sequel neben dem beiseite gerollten Stein über seinem leeren Grab. Wie beim großen Finale im himmlischen Thronsaal. Das, was Johannes hier sieht, ist bei Lichte betrachtet eigentlich gar nicht so neu. Glanz und Gloria beiseite lassend, erkennen wir Variationen eines Themas, erleben wir, was Menschen immer und überall erleben, wenn Gott sich sehen lässt: Es wird anders. Anders als gedacht, anders, als wir es machen würden. Und vielleicht kann und wird es gerade deswegen gut. Das Wort wird Fleisch in der gänzlich kitschbefreiten Ungastlichkeit eines Viehstalls – und macht die, an denen die Weltgeschichte meist vorbeigeht, zu Trägerinnen und Boten des Heils. Der König kommt in nieder’n Hüllen. Der, der die Rettung aller Welt bedeutet, behält seinen unmissverständlich jüdischen Stallgeruch. Das Lamm, auf dem Altar politischen Kalküls und menschlicher Irrtümer geopfert, ist stärker als alle irdischen Herrscher, die sich als brüllende Löwen inszenieren. Und sieben Hörner sind und bleiben mehr als die zwei Hörner aller Götterfiguren und angeglichen Heilsbringer, als der Kopfschmuck aller Teufel und Dämonen dieser Welt. 

ALLE JAHRE WIEDER 

 

Wirklich neu ist das nicht, was Johannes sieht. Tröstlich, ja, ohne Zweifel. Alles wird gut, und im Spannungsbogen der biblischen Geschichte dürfte das kaum überraschen. Alles wird gut. Am Ende einer Predigt am ersten Advent dürfte auch das kaum überraschen. Aber die mächtige Dynamik dieser Welt und ihrer Geheimnisse bringt es mit sich, dass wir es immer wieder neu hören müssen. Auch am ersten Advent hier in Köln können wir großes Kino gebrauchen, mit Bildern, die mächtiger sind als die Schreckensszenarien der Nachrichten, und brüchiger und deshalb wahrer als unsere heimelige Adventsromantik. Auch am ersten Advent gibt es Menschen, auch hier in der Kirche, die Grund haben zu weinen, zu fragen: „Ist da jemand?!“, und mit Ambrosius und Luther und Bach und den Sängerinnen und Sängern aus Rösrath zu rufen: Nun komm, der Heiden Heiland. Komm und nimm die Geschichte in die Hand. Komm und mach uns frei. Komm und streite und siege und richte uns auf. Komm. Wir müssen es neu gesagt bekommen, es uns neu sagen lassen. Und mit der Frage im Hinterkopf: „Ist da jemand?“ hören wir die Kantate des fünften Evangelisten als großes, klingendes, uns bis in die tiefsten Fasern berührendes und veränderndes: JA, AMEN!